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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Henn
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mittig! Er konnte nicht widerstehen und rückte sie
mit einer geschickten Handbewegung an den vorbestimmten Platz.
    »Und, wie schmeckt es euch beiden?«
    »Gut, gut. Keine Klagen.«
    So wenig Enthusiasmus kränkte Julius. Zimmermann musste wirklich auf
den Zahn gefühlt werden.
    »Sonst hör ich aber begeistertere Kommentare von dir! Ich glaub, ich
muss meiner Küchencrew mal wieder die Ohren lang ziehen!«
    Das gewünschte Ergebnis stellte sich ein.
    »Nein, nein, lass das mal lieber. Das Essen ist toll, wie immer. Mir
ist da nur was Unangenehmes passiert. Eine richtig ärgerliche Geschichte.«
    Punkt. Mehr wollte er wohl nicht sagen. Aber Julius ließ nicht
locker. Auf die charmante Tour würde er es schon rauskitzeln.
    »Kann ich dir vielleicht einen unserer schönen Ahr-Weine anbieten?
Du weißt ja, dass wir die komplette Palette im Keller haben. Zu deiner
Aufheiterung köpfe ich gerne eine besonders gute Flasche!«
    »Hör mir bloß auf mit Flaschen ! Das
erinnert mich nur daran!«
    So schnell hatte Julius nicht mit einem Treffer gerechnet. Umso
besser!
    »Wie kann denn eine gute Flasche Wein für Kummer sorgen?«
    Zimmermann schnaufte wie ein Brauereipferd und bedeutete Julius,
sich herunterzubeugen, so dass er in leiserem Tonfall fortfahren konnte.
    »Pass auf. Bei uns steht doch wieder der Kammerpreis an. Und nach
Siggis Tod wollte ich ihm, quasi als letzten Gruß, noch einmal den ersten Preis
verleihen. Eben war ich in seinem Weingut, um die sechs Flaschen persönlich
abzuholen, weil ich eh in der Gegend zu tun hatte. Die letzten sechs Flaschen
von dem Versteigerungswein! Und was meinst du? Nicht aufzufinden! In einer Ecke
lag noch ein Zettel, auf dem › IHK -Wein‹ stand. Aber
von den Flaschen keine Spur! Und ich kann ja nicht Siggis einfachen Wein
gewinnen lassen. Das wäre doch zu auffällig! Und wie steht die IHK jetzt da? Als hätten wir das verbockt! So stehen wir da!«
    Zimmermann nahm die Brille ab und rieb sich die Augen, als könne er
es immer noch nicht glauben. »Ich versteh einfach nicht, wie die wegkommen konnten! Als Siggis Vermächtnis hätte der
Wein gewonnen, ohne Frage. Egal, wie schlecht er gewesen wäre. Jetzt kann sich
der Herold freuen, in diesem Jahr steht ihm niemand mehr im Weg. Jetzt hat er
seine Thronbesteigung!«
    »Ich hab noch ein paar Flaschen.«
    Zimmermann stand so blitzartig auf, dass er Julius’ Kinn beinah mit
dem Kopf getroffen hätte. Der griesgrämige Saulus wandelte sich zum strahlenden
Paulus.
    »Das ist nicht dein Ernst?!«
    »Über Wein mache ich keine Scherze. Du kriegst meine letzten
Flaschen. Ich weiß nicht, ob es sechs sind, aber vier auf jeden Fall. Reicht
dir das?«
    »Das muss reichen! Du bist ein
Gottesgeschenk, Julius!« Zimmermann umarmte ihn wie einen lange verschollenen
Sohn. »Wie kann ich dir nur danken?«
    Julius zögerte keine Sekunde. »Gib Franz-Xaver einfach ein gutes
Trinkgeld. Sonst muss ich mir sein Gezeter noch bis zum jüngsten Tag anhören!«
    Mit einem gespielt vorwurfsvollen Blick, der jedoch von einem
strahlenden Lächeln überdeckt wurde, sagte Zimmermann zu. Auch seine Frau hatte
ihre gute Laune wiedergefunden. Wenn man nur lange und tief genug in ein
Weinglas schaute, schien dies eine therapeutische Wirkung zu haben.
    Der weitere Abend verlief wundervoll harmonisch.
Franz-Xaver war allerbester Laune und behielt seinen sonst allgegenwärtigen
Wiener Schmäh für sich. Küchen- und Restaurantbrigade griffen ineinander wie
ein Schweizer Uhrwerk, und auch der abschließende Gang zu den Tischen beim
Digestif ließ Julius nur in zufriedene Gesichter blicken. Beim Weg zurück in
die Küche stellte sich bei ihm das angenehme Gefühl ein, wieder einmal gut
gearbeitet zu haben. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass im Restaurant alles so
rund lief. Dass wenigstens dieser Mikrokosmos keine unangenehmen Überraschungen
bot, dass er sich auf die Mitarbeiter und die eigenen Fähigkeiten verlassen
konnte. Dies war sein Zuhause, seine Heimat.
    In der Küche griff Julius nach der schmalen Flasche mit
Vogelbeerbrand aus dem Hause Pikberg. Diesen Schlummertrunk hatte er sich
verdient! Während der sanfte Geist Mund und Hals erwärmte, hielt ihm Franz-Xaver
eine Überraschung vor die Nase. Eine Überraschung, die sich ungefragt in
Julius’ Reich geschlichen hatte.
    Der Schlummertrunk war verfrüht gewesen.
    In Franz-Xavers Hand befand sich ein Briefumschlag.
    »Den muss gerade einer unter der Pforten zum Hof durchgeschoben
haben.«
    Ohne Briefmarke.

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