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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Henn
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Ankunft ihn in Angst und Schrecken
versetzen würde, so wie die Stimme am anderen Ende. Und diese Stimme kannte er
gut: Hans-Hubert Rude, ein alter Freund und Kollege vom Bahnhofsrestaurant in
Bad Neuenahr. Dessen dünne Stimme entsprach genau seiner Erscheinung. Ein
hagerer, sehniger Kerl mit so hellem Haar, dass es schütter wirkte.
Zurückhaltender als ein polnischer Priester und eigentlich nur schwerlich in
Aufregung zu versetzen.
    »Ganz ruhig, Hans-Hubert, erst mal durchatmen! Du klingst ja, als
hättest du einen Geist gesehen!«
    Es half nichts.
    »Antoine hat mich angerufen, und der weiß es vom Halbedel aus Bonn!
Der Mann vom Michelin dreht seine Runde!«
    Jetzt stockte auch Julius der Atem. Mit dem Gastrokritiker hatte er
erst viel später im Jahr gerechnet.
    »Julius, bist du noch da? Du solltest dir jetzt wirklich was
einfallen lassen! Der kann jeden Abend bei dir auftauchen!«
    Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
    Der Satz begann langsam. Die leise schimmernden Akkorde
strichen als winterlicher Nebel durch den Raum. Das Thema nahm behäbig Gestalt
an, wie ein Eiskristall am Fenster. Julius atmete tief ein, als könnte er damit
die Musik in sein Inneres holen. Die Melodielinie wallte jetzt im stürmischen
Tutti als Bass für die beiden Celli auf. Und Julius dachte an Fische. Dachte
zuerst daran, wie sie im Wasser schwammen. Im Meer, in Flüssen, in Seen. Er
versuchte, den Raum um sich herum völlig zu vergessen. Das abgedunkelte
Schlafzimmer war nur die Startbahn für seinen kulinarischen Gedankenflug. Das
helle, unbehandelte Holz von Kleiderschrank und Kommode arbeitete still vor
sich hin, die eigens für diesen Raum von einem befreundeten Maler geschaffenen
Bilder, welche die Farben und Formen des Zimmers aufnahmen und weiterführten,
hingen oberhalb des Kopfendes wie stille Wächter. Das Tutti endete mit einer
Kadenz auf G-Dur, die Tonart wechselte poetisch nach Es-Dur, und Schubert
stellte ein neues lyrisches Thema auf. Im selben Moment sah Julius klar vor
Augen, wo er seinen Fisch finden würde. In einem Bach. Und er tauchte hinab,
suchte den Boden ab, schwamm gegen die und dann mit der Strömung, um ihn zu
finden. Er musste ihn finden, und er musste mit ihm
eine Kreation schaffen, die den Kritiker umwerfen würde, die überraschte und
alle Sinne mitriss – so wie es der Bach nun mit Julius tat. Dieses Jahr
wollte er endlich den Michelin-Stern, nach dem er schon so oft gegriffen hatte.
Dieses Jahr würde er zupacken wie niemals zuvor! Dieses Jahr musste er ihn doch
endlich bekommen! Und ein neues Fischgericht würde ihn in seine Hände legen.
Und der Fisch … das Thema ging langsam von Es-Dur nach G-Dur über … Julius
schwamm etwas entgegen … die Violinen erreichten G-Dur, zwei Takte später
wurde ein neuer Gedanke eine Oktave tiefer von der Bratsche aufgenommen …
Julius konnte einen dunkelolivfarbenen Rücken erkennen. Der Fisch richtete sich
im Wasser auf, schoss wie eine Harpune über ihn hinweg und präsentierte dabei
seinen rötlich schimmernden Bauch … die anderen Instrumente spielten
wunderbar passende Begleitfiguren … Julius tauchte auf. In der Hand konnte
er nun klar und deutlich den Fang sehen: ein Bachsaibling! Der feinste aller
Speisefische. Wild zappelte das edle Tier in der Hand. Nun hieß es die
passenden Beilagen finden. Während die Passage zu einer Klimax fand, stand
Julius auf und ging in den Fichtenwald. Ohne Ziel setzte er einen Fuß vor den
anderen, gespannt, wohin ihn die Musik führen würde, als sein Blick auf eine
kleine Kolonie Waldpilze fiel, die er ohne nachzudenken pflückte und neben den
Bachsaibling legte, der sich mittlerweile fein angebraten auf einem Teller
befand. Ein neues Thema kündigte das Ende der Exposition an, die Musik wurde
harmonisch statischer. Julius war plötzlich in Italien. Eine Tür öffnete sich
zu einer Küche, vom vielen Pastamehl wie dunstverhangen. Er stellte den Teller
auf eine große, hölzerne Arbeitsplatte. Würde er hier das Tüpfelchen auf dem
»I« finden, den kongenialen Partner, der das Gericht perfekt machte? Die
Exposition wiederholte sich, und eine dicke italienische Mama legte mit einer
Schöpfkelle Ravioli auf den Teller. Das sollte
passen? Wirkte Schuberts Zauber diesmal nicht? Sollte gerade jetzt die Magie
zum ersten Mal versagen, wo er sie doch so brauchte? In seiner Hand tauchte
eine rustikale Gabel auf. Er probierte Saibling, Waldpilze und die kleinen
Ravioli. Sie waren mit Blattspinat gefüllt, und im Mund

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