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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Henn
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Äpfeln passierte, wenn
sie über Wochen trockener Hitze ausgesetzt waren. Falten und Furchen durchzogen
es wie ausgedörrte Flussbetten. Augen und Mund waren nur dadurch auszumachen,
dass sie sich langsam bewegten. Die Worte, die aus dem Gesicht drangen, waren
jedoch zackig und hart.
    »Ach, der kleine Eichendorff! Ganz schön fett geworden. Neue
Verträge?«
    Julius’ Verträge zum Kauf des Restaurants waren das Erste und
Einzige gewesen, weshalb er Hinckeldeyn jemals konsultiert hatte. Weil er
damals keinen anderen Anwalt kannte und Hinckeldeyn seit Menschengedenken, seit
die ersten Neandertaler sich ins Ahrtal verirrt hatten, der Anwalt der Sippe
war. Nicht, weil er etwas konnte, sondern einfach, weil er einem entfernten
Zweig der Familie angehörte. Niemand konnte ihn leiden. Aber man ging halt zu
ihm. Julius hatte nach dem ersten geschäftlichen Zusammentreffen mit dieser
Tradition gebrochen. Das Durchsprechen der Verträge war zu quälend gewesen.
Hinckeldeyn neigte dazu, chronisch zu meckern und von anderen Menschen nur
Böses anzunehmen. Das machte einvernehmliche Vertragsunterzeichnungen
schwierig.
    »Kann ich reinkommen?«
    »Ja. Aber putz dir die Füße ab! Will keinen Dreck in meiner Wohnung
haben!«
    Julius putzte sich folgsam die Füße ab. Hinckeldeyns Wohnung war in
der Zeit stecken geblieben – was aufgrund ihrer Klobigkeit nicht
verwunderte. Gelsenkirchener Barock in Perfektion. Hier passte nichts zusammen,
aber leider alles ins Zimmer. Einzig ein überdimensionaler
Black-Matrix-Fernseher störte die museale Ausstrahlung. Hinckeldeyn nahm hinter
dem schweren Schreibtisch Platz und wies Julius einen alten Polstersessel zu.
    »Was gibt es denn nun?«
    Julius versuchte, den fordernden Augen des Alten standzuhalten, aber
musste den Blick doch abwenden und in Richtung Bücherschrank schauen.
    »Sie haben vom Mord an Siggi gehört?«
    Hinckeldeyn nickte, sagte aber nichts.
    »Sie haben bestimmt auch mitbekommen, dass Gisela verdächtigt wurde?
Und immer noch wird?«
    Der Notar schwieg. Sein Gesicht zeigte keine Regung.
    »Sie ist schwer belastet worden, und das hängt mit einem Vertrag
zusammen …«
    Hinckeldeyn gab wieder Laute von sich. »Die Polizei war hier. Ich
weiß nichts davon. Es gab keinen Termin.«
    Er log. Dr. jur. Harry Hinckeldeyn log. Hätte Gisela den Termin
nicht bestätigt, Julius wäre darauf reingefallen. Es war nicht zu merken. Es
war meisterlich. Er musste es in den vergangenen Jahrhunderten perfektioniert
haben.
    »Gisela hat mir erzählt, dass es einen gab. Und es stand in seinem
Terminkalender.«
    Einen solchen hatte Siggi zwar nicht geführt – er war stolz
darauf gewesen, sämtliche Termine im Kopf zu behalten –, aber das würde
Hinckeldeyn nicht wissen. Über so etwas sprach man mit ihm nicht.
    »Ein Termin, der nicht eingehalten wurde, existiert nicht. Ich kann
dir nicht helfen, Junge.«
    »Die Polizei glaubt, Siggi wollte die Scheidung.«
    Keinerlei Reaktion. Die Falten und Furchen wirkten wie in Stein
gemeißelt. Ein Gesicht wie ein Gebirge. Ebenso unüberschaubar, ebenso
abgrundtief.
    »Das ist mir egal. Ich war Siegfrieds Anwalt.
Niemandem sonst muss ich über seine Angelegenheiten Rechenschaft ablegen.«
    Trotz dieser ablehnenden Antwort hatte Julius das Gefühl, dass
Hinckeldeyn auf irgendeine Art und Weise Spaß am Gespräch fand. Vielleicht war
ihm jede Ablenkung recht. Vielleicht wollte er sehen, wie Julius sich wand, um
letztendlich doch keine Antwort zu erhalten. Ansonsten hätte er ihn ja
jederzeit rauswerfen können.
    »Herr Hinckeldeyn …«
    »Doktor!«
    »Herr Doktor Hinckeldeyn. Es ist von äußerster Wichtigkeit! Gisela
könnte wieder im Gefängnis landen, wenn der Vorwurf nicht widerlegt wird. Es
könnte Ihrer Reputation schaden, wenn Sie das nicht verhindern!«
    Julius war sich nicht sicher, aber er meinte, ein angedeutetes
Lächeln in Hinckeldeyns Gesicht zu erkennen. Um vollkommen sicher zu sein,
musste man jedoch Geologie studiert haben.
    »Gisela wird auch ohne meine Hilfe in Freiheit bleiben. Die Dinge
werden ihren Gang gehen.«
    »Also ist sie unschuldig?«
    »Zweifelst du daran?«
    »Zweifeln Sie daran?«
    »Ich bin Anwalt. Ich werde nicht fürs Zweifeln bezahlt. Noch nie.«
Das Gebirge gab seine Geheimnisse nicht preis.
    »Sie sehen nicht den Ernst der Lage!« Es musste doch ein Gewissen in
diesem Monolithen geben, an das er appellieren konnte.
    »Mein lieber Junge. Ich sehe den Ernst der
Lage viel deutlicher als du. Glaub mir. Ich sehe

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