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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Henn
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hatte ihn schon oft
gesehen. Er gehörte zur Genossenschaft. Eines ihrer Urgesteine. Er machte keine
Anstalten, die Plakate aufzuheben. Stattdessen musterte er sie, mit seiner
zerfurchten Hand nachdenklich durchs schlohweiße Haar fahrend.
    »Den hab ich doch gestern erst gesehen …«, murmelte er.
»Merkwürdiger Kauz war das, merkwürdiger Kauz, jaja.«
    Julius konnte es nicht fassen. »Sie haben diesen Mann gesehen?«
    »Jaja.«
    Der alte Mann betrachtete weiter die Plakate.
    »Wann und wo?«, platzte es aus Julius heraus.
    »Mhm. Im Altenahrer Eck hab ich ihn gesehen. Gestern. Komischer Kauz
war das, jaja.«
    Julius spürte, wie sein Herz schneller schlug. Den ganzen Vormittag
war er herumgelaufen, damit er jemanden fand, der diesen Mann gesehen hatte.
Und nach dem unangenehmsten Gespräch des Tages schien nun das angenehmste zu
folgen! Julius spulte seinen Fragenkatalog ab, gierig nach einer Antwort, die
ihn einen Schritt weiterbrachte.
    »Haben Sie mit ihm gesprochen?«
    »Jaja.«
    Dieser Mann schien nicht zu wissen, was Julius von ihm wollte.
Nämlich alles, und zwar sofort.
    »Was hat er gesagt?«
    »Hat mich gefragt, ob ich mich auskennen würde. Hab ich natürlich ja
gesagt.« Er strahlte Julius an. »Hat mich gefragt, ob mal wer im Altenahrer Eck
was Ungewöhnliches gefunden hat. Nee, hab ich gesagt. Hat nie einer was
gefunden. Merkwürdiger Kauz.«
    Julius pulte weiter. Das Altenahrer Eck war eine von Siggis Lagen
gewesen. Es musste doch noch mehr zum Vorschein kommen!
    »Wonach hat er denn gesucht?«
    »Sah aus, als wolle er die Alpen besteigen. Hat mich nach den neuen
Rebstöcken gefragt. Ich sag doch nix über anderleuts Parzellen! Geht mich doch
gar nichts an!«
    »Und was hat er dann gemacht? Wo ist er hingegangen?«
    »Ist durch die Rebzeilen wie ein Spürhund. Mit der Nase nach unten.
Hat ständig was in ein Buch geschrieben. Die ganze Zeit.«
    Julius griff den Alten bei den Schultern. »Wissen Sie, wie er heißt
oder wo er wohnt?«
    Der Alte drückte Julius’ Hände barsch von sich. »Nein. Ich weiß gar
nichts. Was soll ich schon wissen?«
    Dann ging er. Julius’ Frust entlud sich in ein paar gekonnten
Tritten gegen die nun vollends mit Wasser vollgesogenen Plakate. Sein
Ordnungssinn zwang ihn danach jedoch, alle wieder aufzusammeln und in einem
nahe stehenden Mülleimer zu entsorgen. Er säuberte sich die Hände mit einem
Erfrischungstuch und setzte sich in den Wagen.
    Erst jetzt, verspätet, drang die Hiobsbotschaft zu ihm durch, die
der Geschäftsführer fallen gelassen hatte. Der Michelin-Tester war bereits im
Tal! Und Julius hatte immer noch keine Suppe kreiert! Das Menü war nicht
komplett. Dabei durfte er sich in diesem Jahr doch keine Blöße geben! Aber wo
sollte er die Mußestunden hernehmen, um sich eine Suppe auszudenken? Wo er doch
den Fall aufklären musste, bevor noch jemand ermordet wurde. Hektisch legte er
den Gurt an und startete den Motor.
    Es lag auf dem Weg. Er hatte keine Zeit, aber es lag auf
dem Weg. Und er wollte es hinter sich bringen. Wie man einen Zahnarzttermin
hinter sich bringen will. Augen zu und durch, dachte Julius. Auf eine
Demütigung mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht an. Das entsprechende Fass
war eh schon übergelaufen. Aber er würde es kurz machen. Kurz, da es schon
schmerzvoll genug sein würde.
    Das Haus sah einladend aus. Der Jugendstil verbarg das alte Tier gut,
das in seinem Inneren vegetierte. Die »Villa Aurora« in der
Georg-Kreuzberg-Straße gelegen, gegenüber der Ahr und nur wenige Schritte vom
Kurgarten entfernt, war ein kleines Schmuckstück. Vor allem, wenn die am Haus
gepflanzten Herbst-Blumen in voller Blüte standen und die Sonne sie beschien.
So wie jetzt, dachte Julius, als wolle sich das Haus lustig über ihn machen.
Auch das Eingangsschild sah einladend aus. In Gold geprägt stand dort der Name,
samt Titel: »Dr. jur. Harry Hinckeldeyn«. Kleiner darunter: »Anwalt und Notar«.
Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass der Bewohner des Erdgeschosses da
war. Denn er war immer da. Gerüchten zufolge hatte er die Wohnung seit Jahren
nicht mehr verlassen. Immer schon ein Eigenbrötler, hatte das Alter Hinckeldeyns
Macken verstärkt, sie wie ein böswilliger Karikaturist hervorgehoben. Julius
drückte die Klingel. Er hoffte, dass die Erinnerung ihn trog. So schlimm konnte
Hinckeldeyn doch nicht sein.
    Ein verschrumpeltes Gesicht erschien im Türspalt, der von einer Kette
versperrt wurde. Es gab einen Eindruck davon, was mit

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