In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
auf den Fernseher), und man darf sich um elf Uhr vormittags ins Bett legen, ohne mit irgendwelchen Vorwürfen rechnen zu müssen. Wenn man plötzlich auf die Idee kommt, die Hecke zu schneiden, wird einem sofort ganz begeistert die elektrische Heckenschere in die Hand gedrückt, und wenn man dabei eine Magnolieverstümmelt, die gar nicht zur Hecke gehört, schimpft niemand mit einem. Man kann egoistisch, mäkelig, ungerecht, ja, einfach nur widerwärtig sein – und alle haben Verständnis dafür. Auch wenn man sich so betrinkt, dass man im Stehen einschläft und gar nicht mehr merkt, dass man den Parkettboden vollko… – äh, mit Erbrochenem ruiniert. Meine Schwester und mein Schwager umsorgten mich in den Tagen danach nur umso liebevoller. Und auch meinen Eltern, die zweimal täglich anriefen, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, kam kein einziges vorwurfsvolles Wort über die Lippen. Sie sagten mir nur immer, wie lieb sie mich hätten und dass ich sehr tapfer sei. Ja, meine Mutter verstieg sich sogar zu so theatralischen Sätzen wie: »Mein Schatz, ich weiß, das sind die schwärzesten Stunden deines Lebens, aber du wirst das alles überwinden, und glaub mir, auch für dich wird irgendwann wieder die Sonne scheinen.« Und das von meiner Mutter: Wenn jemand in einem Fernsehfilm so etwas sagte, dann verdrehte sie nur die Augen und schaltete um.
Der Einzige, der sich offenbar nicht von meinem persönlichen Unglück einschüchtern ließ, war Herr Krapfenkopf. Das konnte aber auch daran liegen, dass er gar nichts davon wusste. Von seinem Anwalt kam ein Brief an Ronnie und Mimi, in dem stand, dass »die Person, die zurzeit illegal bei Ihnen wohnt und arbeitet« ihn als Karpfenkopf beschimpft und mit einer Kettensäge bedroht habe, und dass Herr Krapfenkopf sich daher vorbehalte, Anklage wegen Beleidigung, beabsichtigter Körperverletzung und Schwarzarbeit sowohl gegen mich als auch gegen Ronnie und Mimi einzureichen.
Mimi und Ronnie wollten mir den Brief erst gar nicht zeigen, um mich nicht unnötig aufzuregen, aber ich regte mich nur darüber auf, dass Herr Krapfenkopf anstelle von Krapfenkopf Karpfenkopf verstanden hatte. Was für ein Idiot. Mimireichte das Schreiben an den Anwalt weiter, den sie für mich organisiert hatten. Nicht wegen Herrn Krapfenkopf, sondern wegen der Briefe, die ich in Sachen Mietshäusern, Schnupftabaksdosen und Girandolen vom Anwalt des Bruder meines Mannes bekommen hatte.
Wie gesagt, als trauernde Witwe darf man sich so ziemlich alles erlauben. Dennoch zwangen Mimi und Ronnie mich nach der Sache mit dem Wein und dem kleinen Intermezzo auf dem Bürgersteig, eine Therapeutin aufzusuchen. Angeblich war sie großartig und hatte Ronnie »in seiner schlimmen Krise« sehr geholfen.
»Ich wusste gar nicht, dass du mal eine schlimme Krise hattest«, sagte ich. Genauso wenig, wie ich einen derart behaarten Bauch bei ihm vermutet hätte.
»Doch. Nach unserer Fehlgeburt«, sagte Ronnie. »Frau Karthaus-Kürten ist wirklich sehr hilfreich gewesen.«
Unsere Fehlgeburt. Das war typisch Ronnie. Er hatte auch immer »Wir sind schwanger« gesagt. Er war ohne Zweifel von allen Idioten, von denen ich umgeben war, der liebenswerteste und weichherzigste. Ich wusste auch, dass er es nur gut mit mir meinte.
Aber trotzdem.
»Ich will da nicht hin. Ich halte nichts von Therapeuten und Leuten mit doofen Doppelnamen und überflüssigem Gelabere über mein inneres Kind und meine zu früh beendete anale Phase. Ich bin auch nicht depressiv, ich bin nur traurig. Ich habe meinen Mann verloren!«
Ronnie hatte sofort Tränen in den Augen, als ich das sagte, und er streichelte meine Hand. »Es wird dir aber guttun, wenn dir jemand Wege aus der Trauer zeigt. Zurück ins Leben. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
»Ich glaube, ich muss mich wieder übergeben«, sagte ich.
Ronnie ließ meine Hand los, griff sich die Obstschale vom Couchtisch und hielt sie mir erwartungsvoll unter die Nase, während Äpfel und Bananen auf den Boden plumpsten. Mimi verdrehte die Augen.
»Ich meinte das mehr im metaphorischen Sinne«, sagte ich. »Diese Art Gespräch verursacht einfach Übelkeit bei mir.«
Mimi hob das Obst auf. »Es wird dir guttun, mit jemandem zu reden, der nicht nur deine Trauer versteht, sondern auch deine Wut.«
»Ich bin nicht wütend«, log ich. Ich hatte nur überdurchschnittlich oft das Bedürfnis, jemanden grundlos zu ohrfeigen oder mit Gegenständen um mich zu werfen. Ein schwer zu
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