In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Ihr Ehemann war also der Vater Ihres ersten Freundes?«
Meine Güte. »Ja, das haben Sie richtig verstanden. Ich habe mit Leo Schluss gemacht und bin mit Karl nach Madrid gezogen. Er hatte dort gerade eine Stelle angeboten bekommen. Ein Jahr später haben wir geheiratet.«
Frau Karthaus-Kürten nickte eine ganze Weile vor sich hin. Ein bisschen wie ein Wackeldackel. Sie war schrecklich neugierig, das merkte ich. Zweimal setzte sie an, mich zu fragen, was sie wirklich interessierte, aber beide Male brachte sie ihren Satz nicht zu Ende. »Wie hat denn seine … ich meine … der eigene Sohn … und Ihre … ich meine, das persönliche Umfeld …? Hat denn niemand … waren nicht alle …?«
Oh doch! Sie waren weiß Gott alle schockiert gewesen! Meine Familie, seine Familie, seine Freunde – es hatte ein furchtbarer Aufruhr geherrscht. Am schlimmsten hatte es natürlich den armen Leo getroffen. Er hatte ohnehin immer ein sehr angespanntes Verhältnis zu seinem Vater gehabt. Ich tat aber so, als verstünde ich nicht, was Frau Karthaus-Kürten wirklich wissen wollte und sagte: »Karl hat neben seiner Dozententätigkeit als Kunstsachverständiger für Museen, Galerien und Auktionshäuser gearbeitet. Wir haben zwei Jahre in Madrid gelebt, danach sind wir nach Zürich gezogen. Und von dort nach London. Wo Karl gestorben ist.« Ich machte eine kleine Pause und sah auf die Wanduhr. »Vor genau vier Wochen, drei Tagen, dreiundzwanzig Stunden und vierzehn Minuten. Oder auch siebenundzwanzigmillionenzweiundsechzigtausendundvierzig Sekunden.«
Frau Karthaus-Kürten sah mich mit zusammengekniffenen Augen an und nickte dann, als ob sie es selber im Kopf nachgerechnet hätte. Natürlich konnte sie mich nicht täuschen, sie hatte ja schon die Differenz zwischen 53 und 26 nicht ausrechnen können. Dann aber überraschte sie mich. »Erzählen Sie mir von Ihrem letzten gemeinsamen Tag.«
Der letzte gemeinsame Tag … die letzte Berührung, der letzte Kuss, der letzte Blick, die letzten Worte … Die Tränen kamen aus meinen Augen geschossen, ehe ich etwas dagegen unternehmen konnte.
Frau Karthaus-Kürten reichte mir die Box mit den Taschentüchern.
»Lebe jeden Tag, als ob es der letzte wäre.«
Kalenderweisheit, vermutlich von den Hoopi-Indianern
geklaut oder einer anderen Kultur, in der es keine
Kreditkarten gibt, die man überziehen kann, um noch mal so
richtig einen drauf zu machen – am letzten Tag.
»Ist noch Kaffee da?«, fragte Karl.
Ich zeigte mit dem Kinn auf die Thermoskanne,
ohne den Blick von der Zeitung zu lösen. Im Observer stand ein Artikel über eine Studie, die das Kommunikationsverhalten von Paaren untersucht und dabei festgestellt hatte, dass Eheleute im Durchschnitt täglich keine vierhundert Worte miteinander sprächen. Dreihundertfünfzig davon, sagte die Studie, gingen auf das Konto der Frau. Das Wort, das am häufigsten gebraucht wurde, war »Tee«, ehrlich, kein Witz, gleich gefolgt von »und« und »zu«. So wie in »Mach die Tür zu« oder »Hörst du mir überhaupt zu?«
Und was den Tee anging – nun, wir befanden uns in England. »Die Vorliebe der Engländer für Tee versteht man erst, wenn man ihren Kaffee probiert hat«, sagte Karl immer. Er und ich hatten bei der Studie nicht mitgemacht, aber ich war ziemlich sicher, dass wir mehr als vierhundert Worte miteinander tauschten. Und dass er mehr redete als ich. Trotzdem beschloss ich, spaßeshalber mal mitzuzählen. Ich hatteein heimliches Faible fürs Zählen, ich zählte alles Mögliche, Hunde, Schulkinder in Uniform, Türklopfer, Doppeldeckerbusse – oder eben auch Wörter.
Um acht Uhr hatten wir gefrühstückt, den »Observer« ausgelesen und schon siebzig Worte miteinander gesprochen.
»Ist noch Kaffee da?« hat ja allein schon vier Wörter. Und Karl hatte es schon zweimal gefragt. (Es war italienischer Kaffee.)
»Die Heizung ist immer noch eiskalt«, das waren acht Wörter, und ich sagte sie mit einem vorwurfsvollen Zähneklappern. »Von wegen, es lag nur am Ventil.«
»Ich weiß, der Hausmeister ist ein inkompetenter Blödschwätzer«, noch mal acht. »Ich rufe ihn heute Abend wieder an. Es ist manchmal durchaus ärgerlich, perfektes Englisch zu sprechen, aber kein einziges griffiges Schimpfwort zu kennen.«
»Inkompetenter Blödschwätzer ist doch schon mal gut«, sagte ich.
»Das versteht der doch gar nicht.«
»Dann Motherfucker «, schlug ich vor.
»Der Kerl ist doppelt so groß und dreimal so breit wie ich. Ich werde mich
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