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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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das Haus betrat, zog sie den Schlüsselbund aus der Manteltasche. Noch hatte die Praxis geschlossen. Sie sperrte auf und betrat den Vorraum. Der Platz hinter dem Empfangstresen war unbesetzt. Margret Hecht wohnte in der Nähe und ging über Mittag oft nach Hause. Das Wartezimmer war leer und von Albert nichts zu sehen. Vermutlich war er im Sprechzimmer. Babs stellte die Tüte in der kleinen Teeküche hinter dem Empfang ab und räumte Kaffeepackungen und Milchdosen in den Hängeschrank über dem Spülbecken. Dann ging sie zu Alberts Zimmer und trat ein.
    Im ersten Moment verstand sie nicht, was sie sah. Als weigere sich ihr Gehirn zu erkennen, was nicht zu leugnen oder schönzureden war.
    Albert stand mit dem Rücken zu ihr über den Schreibtisch gebeugt, auf dem Margret Hecht mit hochgeschobenem Rock und gespreizten Beinen mehr lag als saß. Als sie Babs entdeckte, verzog sich ihr Mund zu einem schmalen Lächeln; der Blick aus mausgrauen Augen wurde triumphierend, während Albert sie mit runtergelassener Hose und blankem Hintern bumste. Fickte, dachte Babs. Das war doch das Wort gewesen.
    * * *
    Dühnfort saß mit knurrendem Magen an seinem Schreibtisch. Außer dem Becher Kaffee in der
Schmalznudel
hatte er heute noch nichts zu sich genommen. Höchste Zeit, Mittag zu machen. Aber vorher rief er Meo an. Auf der Speicherkarte der Kamera befanden sich keine Bilder, und mit Heckeroths Rechner war Meo noch beschäftigt.»Bis Nachmittag sollte ich den geknackt haben«, sagte er. Dühnfort legte auf, als ein leises
Bing
den Eingang einer Mail ankündigte. Er öffnete das Postfach. Die Nachricht kam von Agnes. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und während er las, stieg eine Mischung aus Unverständnis und Ratlosigkeit in ihm auf.
     
    Der Straßenlärm betäubend zu mir drang. In großer Trauer, schlank, vom Schmerz gestrafft, Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang …
     
    Diese Zeilen waren alles, was die Mail enthielt. Keine Anrede, keine Grußformel. Nur diesen Teil eines Gedichts. Was wollte sie ihm damit sagen? In dieser Frau sah sie sich. So viel war klar. Doch warum hatte sie ihm das geschickt?
    Mit leerem Magen konnte er nicht denken. Er griff nach seinem Mantel, verließ das Büro und ging durch die Fußgängerzone Richtung Viktualienmarkt. Der Himmel war grau wie seit Tagen schon. Aber statt Wolkenbergen bedeckte ihn eine gleichmäßige Masse, wie eine in Blei gegossene Platte. In Dühnforts Vorstellung zog ein Bleiflugzeug von Anselm Kiefer lautlos über diesen Himmel, wie ein Vogel aus einer anderen Welt.
    Dühnfort passierte die Mariensäule und erreichte die Buchhandlung an der Ecke. Einem spontanen Entschluss folgend, betrat er sie, las die Informationstafel und suchte die Abteilung auf, in der es Gedichtbände gab. Allerdings wusste er nicht, wonach er suchen musste. Eine Verkäuferin kam auf ihn zu, während er ratlos auf die Regale blickte.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Sie war jung, hübsch undstrahlte eine Frische aus wie taufeuchtes Gras an einem Frühlingsmorgen.
    Wonach sollte er fragen? »Mir gehen einige Gedichtzeilen durch den Kopf, aber ich kann sie nicht einordnen.«
    Sie lächelte ihn an, und er bemerkte im tiefen Blau ihrer Augen bernsteinfarbene Sprenkel. »Wollen Sie die aufsagen?«
    »Ich weiß nur Fragmente. Es beginnt mit Straßenlärm und geht um eine Frau in Trauer, die mit der Hand gerafft, den Saum des Kleides hob, der glockig schwang.« Er kam sich vor wie ein Idiot.
    Das Lächeln in ihren Augen verwandelte sich, wurde tiefer.
    »Und ich erstarrt, wie außer mich gebracht, vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht, sog Süße die betört und Lust die tötet ein.« Ihr Blick glitt über sein Gesicht, blieb einen Moment am Mund hängen. »Baudelaire.
Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen.
Wir haben es da.« Sie wies auf ein Regal und ging voran. Er folgte ihr. Irritiert. Da war er wieder gewesen, dieser interessierte Blick, den er schon oft bemerkt und immer beiseitegeschoben hatte. Wenn er wollte … Aber er wollte nicht.
    Er kaufte das Büchlein und ging zurück ins Erdgeschoss. Dort entdeckte er im Vorübergehen, auf einem Tisch mit Sonderangeboten, einen großformatigen Bildband.
Das Meer.
Auf dem Schutzumschlag aus glänzendem Papier toste die See. Weiße Gischt. Dunkelgrüne Wogen. Dazwischen ein Fischerboot, so klein, dass er es erst bei genauerer Betrachtung entdeckte. Er schlug das Ansichtsexemplar auf und

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