In weißer Stille
Tino,
eigentlich komme ich mir ein wenig lächerlich vor. Wenn du schon auf meine Anrufe nicht reagierst, wirst du auch eine E-Mail nicht beantworten. Trotzdem würde ich gerne wissen, ob dieses Totstellen nun deine Art ist, unsere Beziehung zu beenden. Neuerdings bin ich ja ein Fan von klaren Worten, wie du weißt. Andererseits könnte dein Verhalten auch eine Taktik sein, mein Interesse wachzuhalten. Dann sieh dich vor ;-)
Agnes
Sie hatte einen Link gemailt. Dühnfort klickte darauf, und die Webseite eines Wissensmagazins öffnete sich. Er las:
Listige Spinnenmännchen – Totstellen hilft bei der
Paarung. Kannibalische Weibchen zwingen männliche Listspinnen zu ungewöhnlichem Balzverhalten: Sie stellen sich tot. Mit dieser Taktik kommen die Tiere sehr viel häufiger zum Zug als ihre Artgenossen …
Kannibalische Weibchen. Wieder stand ihm das Bild anbrandender Wellen vor Augen, die einen Felsen langsam zu Sand zerrieben. Er liebte sie, aber sie benutzte ihn. Und das Schlimmste war, dass er es verstand. Aber er konnte nicht mehr mitspielen. Er gab in die Suchmaske
Brandung
ein und ließ sich in den Ergebnissen die Bilder anzeigen. Schnell hatte er eines gefunden, das seinem geistigen Bild nahekam. Er klickte in Agnes’ Mail auf
Antworten,
kopierte das Bild hinein und schrieb:
Es tut mir leid. Mein Verhalten war rücksichtslos. Ich taktiere nicht, ich sehe einfach keine Perspektive.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, klickte er auf
Senden.
Dann stand er auf und blickte aus dem Fenster.
Schlank erhoben sich die Zwillingstürme der Frauenkirche in den Himmel. Die Schnittwunde an der Hand pochte. Wie viel leichter war es gewesen, Agnes diese Worte zu schreiben, als sie ihr ins Gesicht zu sagen.
Es klopfte. Dühnfort warf noch einen Blick auf den Dom, dann drehte er sich um und rief: »Ja, bitte.«
Bertram Heckeroth trat ein. Auch diesmal war er komplett schwarz gekleidet. Dühnfort bot ihm Platz an. Heckeroth junior knöpfte den eleganten Kurzmantel auf, setzte sich breitbeinig auf den Besucherstuhl und lehnte sich zurück.
»Sie haben also Vaters Auto gefunden. Wo?«
»Auf einem Hotelparkplatz.«
»Aha.« Bertram wirkte überrascht. »Ist es beschädigt?«
»Nein. Es war ordentlich geparkt und abgeschlossen.Nach wie vor fehlen Haus- und Autoschlüssel Ihres Vaters. Sie waren nicht im Fahrzeug.«
»Dann wird die der Täter haben oder, was ich für wahrscheinlicher halte, die Täterin.« Bertram Heckeroth verharrte in der breitbeinigen Pose. Die Hände lagen locker auf den Oberschenkeln. Doch unterhalb des linken Auges, knapp unter dem Rand der schwarzen Brille, nahm Dühnfort das nervöse Zucken eines Muskels wahr.
»Eine Frau also.«
»Das liegt doch auf der Hand.«
Dühnfort lehnte sich zurück. Heckeroth würde schon loswerden, was er loswerden wollte.
»Der Mord an meinem Vater ist feige und hinterhältig. Das sind typisch weibliche Eigenschaften. Ein Mann wäre aggressiv vorgegangen. Er hätte geschossen oder geschlagen. Er hätte die direkte Konfrontation nicht gescheut.«
»Ich finde den Tod, den Ihr Vater erleiden musste, vor allem grausam. Ist Grausamkeit nun typisch männlich oder weiblich?«
Heckeroths Stirn wurde glatt, die Lippen dünn.
»Ich halte mich lieber an Motive und Fakten. Fakten sind etwas Wunderbares. Sie sprechen für sich«, fuhr Dühnfort fort.
»Rache. Ist das kein Motiv?« Bertram Heckeroth richtete den Oberkörper auf.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich denke, das ist klar. Sie haben die Fotos doch gesehen. Glauben Sie denn, dass eine dieser Frauen freiwillig die perversen Spielchen meines Alten mitgemacht hat? Denen muss doch schon bei der Vorstellung schlecht geworden sein.«
»Sie denken an Vergewaltigung?«
»Möglich, aber eher unwahrscheinlich.« Heckeroth kehrte wieder zu seiner entspannten Haltung zurück. »Mein Vater hat mit Worten durchgesetzt, was er wollte. Er hat es sogar geschafft, meine Mutter davon zu überzeugen, dass es sein gutes Recht sei, Geliebte zu haben.«
»Also wussten Sie doch von den Affären Ihres Vaters.«
»Ich wusste, dass er meine Mutter betrog, und zwar schon immer. Das wussten wir alle. Aber wir wussten nicht, was er mit den Frauen trieb. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es eine gibt, die erkannt hat, welcher Gehirnwäsche er sie unterzogen hat. Das waren doch junge, unreife, beeinflussbare Dinger.«
»Aber Sie kennen keine Namen außer denen, die Sie uns schon genannt haben? Das sind also alles nur
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