In weißer Stille
Alurollladen war davor angebracht. Alles war abgestoßen, angeschlagen, beschädigt; sogar am Spiegel über dem Waschbecken fehlte eine Ecke. »Heute Morgen beim Einchecken habe ich mich ja fast geschämt, weil ich als Beamtin das Privileg habe, Privatpatientin zu sein. Bis ich das Zimmer gesehen habe. Ich will gar nicht wissen, wie die Kassenpatienten untergebracht sind.« Sie setzte sich aufs Bett und bot Dühnfort den einzigen Stuhl an.
»Wirklich hübsch hier«, sagte er. »So minimalistisch und authentisch. Erinnert in seinen klaustrophobischen Zügen an das
Haus ur
von Gregor Schneider.«
»Mich erinnert es eher an
Psycho.
Gott sei Dank gibt es keine Dusche. Das erspart mir zusätzliche Sorgen. Sehr aufmerksam.« Gina lachte.
Eine Schwester trat, ohne anzuklopfen, ein und gab Gina eine Reihe von Instruktionen für die morgige Untersuchung. Dann legte sie ein Schächtelchen mit zwei Tabletten und Thrombosestrümpfe auf das Nachtkästchen und wünschte eine gute Nacht.
Dühnfort blickte ihr nach. »Ich komme morgen Mittag vorbei, wenn ich es schaffe.« Er steckte die Papiere in die Dallmayr-Tüte zu den Weinflaschen.
»Ist nicht nötig«, erwiderte Gina. »Aber ich würde mich trotzdem freuen. Ich bring dich noch zum Lift.«
Sie verließen die Station. Vor dem Aufzug fehlten Dühnfort die Worte. Er wusste nicht, wie er Gina Mut machen sollte.
»Es ist, wie es ist.« Gina legte die Stirn in Falten. »Das sagst du doch immer. Entweder habe ich Krebs oder nicht. Das ist schon jetzt so. Morgen wird es nur festgestellt. Und selbst wenn es so ist, dann bin ich immer noch früh genug dran, um das in den Griff zu kriegen. Andere pinkeln Blut, bevor sie zum Arzt gehen.« Der Tonfall ließ Dühnfort an das Mut machende Pfeifen im Dunkeln denken.
»Du wirst sehen, es ist nichts.« Er wusste nicht, woher er diese Sicherheit nahm. Der Lift kam, die Türen öffneten sich. Zwei Schwestern schoben ein Krankenbett heraus, in dem ein alter Mann lag. Zusammengeschrumpelt wie ein vergessener Apfel. Das ist das Ziel, das wartet am Ende auf uns, dachte Dühnfort, wenn man nicht vorher ein Messer in den Hals gestoßen bekommt.
* * *
Caroline verstaute die Laptoptasche im Fach für Handgepäck und nahm am Fenster Platz. Die Handtasche legte sie auf den Sitz neben sich. Die Veranstaltung über Global-Marketing war wie befürchtet abgelaufen. Im Großen und Ganzen verlorene Zeit. Eine Stunde noch, dann war sie wieder in München. Marc hatte angerufen, als sie noch am Gate auf den Beginn des Boardings gewartet hatte. »Ich bin auf der Rückfahrt von Nürnberg und komme beinahe am Flughafen vorbei. Ich mache einen Schlenker und sammle dich ein. Ja?« Dieses Angebot hatte sie gerne angenommen.
Auf den Platz am Gang ließ sich ein übergewichtiger Mittfünfziger plumpsen. Er lockerte seinen Schlips und vertiefte sich dann in eine Managerzeitschrift.
Caroline lehnte sich zurück und schloss die Augen. Gestern, nachdem sie die erste Scheu überwunden hatte, hatte sie begonnen, das Tagebuch zu lesen. Darin wurde ihre Mutter Elli lebendig, und das war schmerzhaft und tröstlich zugleich.
Elli war durch und durch Pragmatikerin gewesen, eine nüchterne Frau, die großen Gefühlen misstraute. Sie stammte aus einer Münchner Kaufmannsfamilie, in der es um Soll und Haben ging, um Märkte und Absatzchancen, um Konkurrenz und Allianzen. Selbstverständlich war sie mit einer Portion gesundem Menschenverstand erzogen worden. Literatur und Musik, Malerei und Theater, schöngeistige Gespräche und Bildungsreisen wurden in dieser Familie entweder als überspannte Flausen abgetan oder als Verschwendung betrachtet. Kein Wunder, dass Elli jeglicher Sinn für Romantik abging. Sie machte eine kaufmännische Ausbildung, lernte, mit Zahlen zu jonglieren, sich über ein ordentliches Skonto zu freuen, Zahlungsziele zu verhandeln und sich in dieserMännerwelt zu behaupten. Zarte Gefühle waren fehl am Platz. Die einzige Schwäche, die sie sich erlaubte, galt dem Kino. Kaum lief ein neuer Film an, saß sie mit ihrer Freundin Thea im
Neuen Arena
oder im
Theatiner Filmtheater
und vergaß für zwei Stunden die Welt. Dabei waren ihr amerikanische Produktionen genauso lieb wie die deutschen Nachkriegsschmonzetten. Elli kannte sie alle. Hier ging es um die großen Gefühle, an die sie eigentlich nicht glaubte.
Wolfram Eberhard Heckeroth und Elli lernten sich durch Thea kennen. Ihre Mutter vermietete Zimmer an Studenten. In eines zog Wolfram, als er das
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