In weißer Stille
Medizinstudium begann. Elli und er freundeten sich an, und aus der Freundschaft wurde eine Liebelei, die in eine Ehe mündete. Als Wolfram die Facharztausbildung begonnen hatte, also erstes Geld verdiente, hatte er Elli einen Antrag gemacht.
»Entschuldigen Sie. Das ist mein Platz.«
Caroline blickte auf. Eine ältere Dame deutete auf den Mittelsitz. Caroline nahm die Handtasche auf den Schoß. Nun musste noch der Dicke aufstehen; die Frau setzte sich. Es war längst dunkel geworden. Die Lichter des Terminals, der Flugzeuge und Wegemarkierungen leuchteten wie auf einem Rummelplatz. Carolines Gedanken kehrten zum Tagebuch zurück.
Als Teenager hatte sie wissen wollen, weshalb Mutter Vater geheiratet hatte. Er hatte andere Frauen, und sie verstand nicht, weshalb Elli sich das bieten ließ, wobei sie, Caroline, eine Scheidung noch mehr fürchtete. Ellis Antwort hatte sie nie vergessen. »Weißt du, eine solide Freundschaft ist die beste Basis für eine Ehe, besser als Verliebtheit. Wenn die nachlässt, und das tut sie, was bleibt dann? Meistens nichts.«
»Du hast Vati also gar nicht geliebt, als ihr geheiratet habt?«, hatte Caroline gefragt.
»Was heißt schon Liebe? Wir waren Freunde. Dein Vater hatte eine gute Stellung an der Kinderklinik. Er konnte mir etwas bieten. Und weißt du, Caroline, die großen Gefühle finden sowieso zwischen Buchdeckeln und im Kino statt«, hatte sie gesagt und dann hinzugefügt: »Meistens jedenfalls.«
Die Turbinen wurden lauter. Langsam schob die Maschine sich aus der Parkposition, nahm Fahrt auf und rollte über das Vorfeld zur Startbahn. Caroline zog das Tagebuch aus der Handtasche und blätterte es auf. Es umfasste einen Zeitraum von etwa zwölf Jahren. Am Ende hatte Elli einige Seiten herausgerissen. Warum hatte sie das getan?
Anfangs beschrieb Elli ihre noch junge Ehe, die genauso geordnet ablief, wie sie es erwartet hatte. Lediglich ein Punkt machte ihr zu schaffen.
Gott sei Dank habe ich mir, was diesen Aspekt der Ehe angeht, niemals romantische Illusionen gemacht. Nicht umsonst gehört er zu den ehelichen Pflichten. Wie das Wort schon sagt: Eine Pflicht ist selten eine Freude. Aber muss Wolfi sie jeden Tag einfordern? Es ist mir lästig und unangenehm, und ich bin jedes Mal froh, wenn er fertig ist. Und außerdem vermittelt er mir das Gefühl, in diesem Punkt alles falsch zu machen. Hoffentlich gerate ich bald in andere Umstände. Dann kann ich Rücksichtnahme von ihm erwarten.
Sind wir drei Kinder etwa aus diesem Grund geboren worden?, fragte sich Caroline nun. Nicht aus Liebe und dem Wunsch, etwas weitergeben zu wollen, sondern damit ihre Mutter die
lästigen ehelichen Pflichten
für einige Zeit vermeiden konnte?
Das Flugzeug hatte die Startposition erreicht. DasDröhnen der Turbinen wurde noch lauter, die Maschine fuhr los und nahm rasch Geschwindigkeit auf. Caroline wurde in die Rücklehne gedrückt, sie rasten über die Bahn, Lichter wischten vorbei, dann hoben sie ab. Ein erregendes Prickeln breitete sich in ihr aus. Sie genoss diesen Moment jedes Mal, er war beinahe wie ein kleiner Orgasmus. Caroline lächelte. Dieses Wort war Mutter sicher nie über die Lippen gekommen.
Als sie die Reiseflughöhe erreicht hatten, schlug Caroline das Tagebuch wieder auf. Dabei fielen die Briefe heraus, die sie zwischen die Seiten gelegt hatte. Ein dünnes Bündel. Obenauf lag ein Kuvert, das eine mit Maschine geschriebene Anschrift trug. Es war die der Kinderklinik, in der Vater Anfang der sechziger Jahre gearbeitet hatte. Allerdings war der Brief nicht an ihn gerichtet, sondern an
Verwaltungsdirektor Peter Brandenbourg – persönlich.
Caroline drehte den Umschlag um. Es gab keinen Absender. Sie zog den Brief aus dem Kuvert und erkannte die steile Handschrift ihrer Mutter.
Geliebter!
Caroline glaubte sich verlesen zu haben. Dort stand tatsächlich
Geliebter!
Hatte ihre Mutter etwa eine Affäre gehabt? Offensichtlich – Vater hätte sie niemals so tituliert. Caroline sah auf das Datum: 11 . Dezember 1963 . Da waren ihre Eltern gerade mal ein Dreivierteljahr verheiratet gewesen.
Geliebter!
Ja, nun darf ich Dich so nennen. Nachdem wir nach Wochen, in denen wir unsere Gefühle aus den Augen des anderen lasen, unsere Liebe in Worte gefasst haben, wie einen Schatz von Edelsteinen so funkelnd und schön. Und nicht in Worte allein. Wie Deine Hände, Geliebter,
sanft meinen Körper erkundeten, ein auch mir unbekanntes Land entdeckten und eroberten …
Mein Gott,
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