In weißer Stille
Mutter! Caroline ließ den Brief sinken. Sätze wie aus einem Kitschroman, und das aus der Feder ihrer Mutter, der kühlen Pragmatikerin. Was hatte sie mit dem unbekannten Land gemeint? Sollte das bedeuten, dass Vater, der Weiberheld, nicht gewusst hatte, was eine Klitoris ist?
»Was möchten Sie trinken? Saft, Kaffee, Wasser?«
Caroline fuhr auf. Die Stewardess lächelte sie freundlich an. Einen Kognak, hätte Caroline am liebsten geantwortet. »Haben Sie Rotwein?«
Die Stewardess reichte ihr einen Plastikbecher und ein Fläschchen mit Schraubverschluss.
Während sie den Rotwein trank, der etwas zu viel Säure hatte, las sie Mutters mehrseitigen Brief zu Ende. Er ging ähnlich schwülstig weiter, wie er begann. Vieles war nur angedeutet, Körperteile und Handlungen umschrieben, aber was die beiden miteinander erlebt hatten, war eindeutig. Mutter hatte mit Peter den besten Sex ihres Lebens gehabt, und das bereits am selben Tag, an dem sie sich
ihre Liebe eingestanden
hatten.
Verlangen und Erfüllung
waren wie
Wogen über ihnen zusammengeschlagen
und hatten sie
mit sich gerissen.
Wow, dachte Caroline. Da konnte Vater nicht mithalten. Aber was war aus Peter geworden? Warum hatte Mutter
Wolfi
nicht verlassen?
Das Anschnallzeichen leuchtete auf, der Kapitän gab bekannt, dass sie die Reiseflughöhe verließen und sich im Landeanflug auf den Flughafen München befanden.
Caroline betrachtete den Brief. Mutter war damals eine junge Frau gewesen, frisch verheiratet, und PeterBrandenbourg leitete die Verwaltung der Klinik. Einen solchen Posten musste man sich erarbeiten. Vermutlich war er deutlich älter gewesen. Caroline musste lächeln. War es nicht eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Mutter, die immer geglaubt hatte, dass es die große Liebe allenfalls in Romanen und auf der Kinoleinwand gab, ihr doch begegnet war? Als Mutter diese Sätze zu Caroline gesagt hatte, musste die Affäre mit Peter Brandenbourg schon hinter ihr gelegen haben. Hatte sie rückblickend ihre Meinung geändert? War es vielleicht doch nicht die große Liebe gewesen, sondern eine Enttäuschung? Oder beides?
Das Flugzeug setzte auf der Landebahn auf und rollte an den Finger. Caroline packte ihre Sachen zusammen. Als sie das Flugzeug verließ, freute sie sich darauf, Marc gleich zu sehen.
* * *
»Warum informierst du nicht die Polizei, wenn du davon überzeugt bist, dass er seinen eigenen Vater umgebracht hat?« Marc griff nach einem Gurken-Maki, tunkte es in Sojasoße und schob es in den Mund. Abwartend blickte er sie an. Sie hatte ihm von ihrem Gespräch mit Katja und von ihrem Verdacht erzählt, dass Bertram sie wegen des Alibis erpresste.
Caroline wusste keine Antwort. Etwas in ihr sträubte sich, der Polizei ihren Verdacht mitzuteilen. Letztlich hatte sie keine Beweise. »Vermutlich habe ich mich doch mit dem Heckeroth-Virus infiziert.
Eine Familie hält zusammen! Was werden die Nachbarn denken?
Außerdem habe ich Angst. Er wird sich rächen, wenn er erfährt, dass ich ihn angeschwärzt habe.«
Caroline war der Appetit vergangen. Sie schob denhalb leeren Teller Sushi, die Marc am Flughafen gekauft hatte, weg. Er musterte sie besorgt. Wieder fiel ihr auf, wie gut er aussah. Blaue Augen, dichtes schwarzes Haar und ein Gesicht und einen Körper, als sei er, für einen Abstecher ins einundzwanzigste Jahrhundert, direkt der
Ilias
entstiegen. Außerdem war er rücksichtsvoll, aufmerksam und höflich.
»Übertreibst du nicht ein wenig? Ich fand ihn eigentlich immer ganz nett. Ein interessanter Typ.«
»Er wird mindestens den Lack meines Autos zerkratzen. Bei Babs hat er die Vitrine mit Muranoglas umgeworfen. Er ist ein echtes Arschloch und außerdem ein Loser.«
»Ich würde ihn so nicht bezeichnen.« Marc faltete die Serviette zusammen und legte sie neben den Teller. »Auf mich wirkt er eher wie der Held einer Tragödie.«
Caroline bemühte sich, den Zorn, der unweigerlich in ihr aufstieg, zu unterdrücken. »Hast du den Sophistenkurs an der Volkshochschule belegt?« Es war ironisch gemeint, klang aber verärgert.
Marc lachte. »Ich blicke nur von außen auf eure Familie, das ist eine andere Perspektive. Ihr Kinder tragt die üblichen Kämpfe um Anerkennung und Liebe der Eltern aus. Und Bertram hat sich dabei völlig verrannt. Er hat den falschen Beruf gewählt. Vermutlich hätte er das Zeug zum Arzt gehabt, aber die Stelle des Thronfolgers war ja schon an Albert vergeben.«
»So kann man das natürlich auch sehen. Aber
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