In weißer Stille
fertig sind. Sind die Bänder der Verkehrsüberwachung eigentlich schon da?«
»Die bekomme ich bis morgen.« Alois knöpfte den dunklen Wollmantel zu und zog den Kaschmirschal enger um den Hals.
»Weshalb dauert das so lange?«
Fröstelnd rieb Alois die Hände aneinander. »Sie sind schon archiviert. Jemand muss sie raussuchen.«
Als sich nichts rührte, öffnete Dühnfort die Gartentür und ging, von Alois gefolgt, zur Haustür. Er klopfte. Es blieb still. Die Beisetzung fand erst in zwei Stunden statt. Bertram sollte eigentlich zu Hause sein.
»Vielleicht verschwindet er gerade durch den Garten.«
»Du gehst hier rum«, Dühnfort zeigte auf den Kubus zu seiner Rechten, »und ich hier.« Er bog links ums Hauseck und folgte einem gekiesten Weg bis auf die Terrasse, die durch eine Glasschiebetür vom Wohnzimmer aus zu betreten war. Diese Tür stand einen Spaltbreit offen. Dühnfort blickte ins Innere auf eine elegante Sitzgruppe aus schwarzem Leder. Bertram saß in einem der Sessel. Der Kopf, oder vielmehr das, was davon noch übrig war, war nach hinten gekippt und ruhte auf der Kante des Lederpolsters. Auf dem Boden lag eine Waffe.
Die Wunde an Dühnforts Hand begann zu pochen. Gleichzeitig fühlte er, wie sich eine Mischung aus Wut, Trauer und Schuld in seinem Innersten zusammenbraute, seinen Magen mit flüssigem Blei füllte und ihn zwang, sich auf die Kante eines Blumentrogs voller verblühender Astern zu setzen. Hatte er etwas übersehen? War er zu langsam gewesen? Wenn er mehr Druck gemacht und den Durchsuchungsbeschluss noch gestern Nacht bekommen hätte, könnte Bertram dann noch leben?
Alois kam um die Ecke. »Keine Spur von ihm. Wir sollten die Fahndung nach ihm rausgeben.«
»Nicht nötig.« Dühnfort wies ins Wohnzimmer.
Alois warf einen Blick hinein und nahm, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, neben Dühnfort Platz. Er stützte die Hände auf die Knie und atmete durch. »Das ist allerdings auch eine Möglichkeit, sich aus dem Staub zu machen.«
»Informierst du Buchholz und die Rechtsmedizin?« Dühnfort raffte sich auf und ging zu seinem Auto, um Überschuhe und Latexhandschuhe zu holen.
Als er zurückkam, schob Alois das Handy in die Tasche. »Du gehst schon rein? Da wird Buchholz nicht entzückt sein.«
Dühnfort ignorierte diese Bemerkung und betrat das Wohnzimmer durch die Terrassentür.
Der Gesichtsausdruck des Toten irritierte ihn. Er wirkte entspannt und friedlich, obwohl er sich in den Mund geschossen und so die hintere Hälfte seines Schädels weggesprengt hatte. Die sicherste Art, Selbstmord zu begehen.
Im Augenblick des Todes war die Muskulatur erschlafft, der Arm herabgesunken und die Waffe auf den Boden gefallen. Sie lag knapp unterhalb der rechten Hand auf dem Teppich. Dühnfort ging in die Hocke. Es war eine Ceska. Diese Pistolen kamen aus Tschechien und wurden bevorzugt von Tätern aus dem Osten benutzt.
Dühnfort erhob sich und sah sich um. Partikel von Schädelknochen, Gehirnmasse und Blut waren bis zum Tisch in der Essecke gespritzt. Der metallische Geruch von Blut lag in der Luft und – da sich Blase und Darm im Moment des Todes entleert hatten – auch der von Urin und Exkrementen.
Auf dem Couchtisch lag ein mehrseitiger Brief, der von einer Klammer zusammengehalten wurde. Dühnfort beugte sich darüber. Es war kein Abschiedsbrief. Der Schriftzug eines Notars prangte darauf und der Stempel
Kopie.
Es handelte sich um die Kopie von Wolfram Eberhard Heckeroths Testament, verfasst am 18 . September. Dühnfort überflog die Seiten, bis er die entscheidende Stelle gefunden hatte. Wolfram Eberhard Heckeroth hatte nur vier Tage nach dem Tod seiner Frau das Testament geändert, seinen Sohn Bertram auf den Pflichtteil gesetzt und diesen obendrein wohlmeinend beschränkt. Wenn Dühnfort das richtig verstand, sollte Bertram nicht nur deutlich weniger erhalten als ursprünglich von seinen Eltern geplant, sondern von diesem kleinen Teil nur denjährlichen Ertrag. Also keine große Summe auf einmal, mit der er sein Haus vor der Zwangsversteigerung hätte retten können. Dühnfort suchte nach dem Umschlag, konnte aber keinen finden. Er ging zurück auf die Terrasse zu Alois, der gerade das Handy einsteckte. »Obwohl es wie Selbstmord aussieht: Wir behandeln das, bis wir Sicherheit haben, wie einen Mord. Spurensicherung, Hausdurchsuchung, Befragung der Nachbarschaft. Das ganze Tamtam. Kümmerst du dich darum? Ich muss mit seinen Geschwistern sprechen und auch mit seiner
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