In weißer Stille
Trauer und Verzweiflung den Weg.
Erst als ihr Körper vom heißen Wasser gerötet war, stieg sie aus der Kabine, frottierte sich ab, schlüpfte in Jeans und Pulli und ging in die Küche, um sich einen Kamillentee zu machen.
Innerhalb von wenigen Wochen hatte sie beinahe ihre ganze Familie verloren. Nur noch Albert war geblieben.
Arschkriecher
hatte Bertram ihn immer genannt, schon als kleiner Junge. Albert hatte immer getan, was Vater wollte, und dafür lobende Worte, eine anerkennende Geste oder auch ein teures Geschenk bekommen. Caroline hatte nie verstanden, wieso Albert sich so unterordnete.Andererseits war er auch nie der leidenschaftliche Typ gewesen, der wusste, was er wollte, und dafür kämpfte. Vaters Erwartungen wiesen ihm den Weg durchs Leben, gaben ihm Halt.
Nur einmal hatte Albert Widerstand geleistet. Da war er fünfzehn oder sechzehn gewesen und hatte sich in ein Mädchen verliebt, das er in der Straßenbahn kennengelernt hatte. Ayshe. Sie war anmutig und hübsch, ein exotisch wirkendes Geschöpf. Ihre Mutter war Deutsche, der Vater Türke. Sie besuchte die Hauptschule. Als Albert sie das erste Mal nach Hause brachte, behandelte Vater sie höflich, aber distanziert. Am Abend erklärte er Albert dann, dass dieses Mädchen kein Umgang für ihn sei. Hauptschülerin! Was er mit so einer wolle. Er solle sie vergessen, sie würde ihn nur auf ihr Niveau hinunterziehen. Zum ersten Mal versuchte Albert sich zu wehren. Es gab Streit, er nannte Vater tatsächlich einen Rassisten. Zwei Tage später erlitt Albert einen Hörsturz. Psychosomatisch, sagte der Facharzt. Als die Erkrankung nach drei Monaten überstanden war, war der zarte Keim einer Jugendliebe verdorrt. Vater hatte Ayshe jeglichen Besuch bei Albert untersagt.
Im Gegensatz zu Albert hatte Bertram immer die Konfrontation gesucht. Früher war es ihm oft gelungen, Caroline auf seine Seite zu ziehen und für seine Zwecke einzuspannen. Ob es daran lag, dass sie ihn geliebt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren? Ständig hatte Vater auf ihm herumgehackt. Vielleicht hatte sie das mit ihm verbunden, dieses Ausgestoßensein. Meine Güte, dieser unsägliche Sommer, als sie noch in dem alten Haus in Germering wohnten und der Fußballkrieg zwischen ihm und Vater ausbrach. Bertrams Schulnoten hatten nachgelassen, und Vater verlangte von ihm die Einsicht, dasser den Fußballverein aufgeben solle. Er verbot es nicht, er meldete Bertram auch nicht ab. Nein, er verlangte von ihm die Reife, eigenständig eine solche Entscheidung zu treffen. Doch Bertram ging nach wie vor zum Training und an den Wochenenden zu den Spielen. Caroline bat Vater, Bertram doch spielen zu lassen. Aber der verlor die Geduld und begann ein perfides Machtspielchen, das damit endete, dass er Bertram in den Keller sperrte.
Bei diesen Erinnerungen wurde es Caroline noch übler. Der Tee hatte lange genug gezogen. Sie nahm den Becher mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Als sie merkte, dass ihre Schultern sich wieder verspannten, stand sie auf und ging im Zimmer umher. Der Pfropfen in ihrer Brust drückte. Wenn doch nur Marc hier wäre. Aber ihre, wenn auch unausgesprochenen, Worte hatten ihn tief verletzt. Er hatte sie gebeten zu gehen und ihr ein Taxi gerufen. Sie konnte es ihm nicht verdenken und wunderte sich dennoch über den Schmerz, den dieser Gedanke in ihr verursachte. Ich bin wie Mutter, dachte Caroline plötzlich. Ich glaube genauso wenig an die Liebe wie sie. Aber sie hat sie mit Peter Brandenbourg doch gefunden. Brandenbourg. Irgendwie klang der Name vertraut. Sicher weil sie ihn in den letzten Tagen mehrfach gelesen hatte.
In der vergangenen schlaflosen Nacht hatte sie weiter in den Briefen und im Tagebuch geblättert. Ihre Vermutung war richtig gewesen: Peter Brandenbourg war fünfzehn Jahre älter als Elli, verheiratet und Vater eines zwölfjährigen Sohnes und einer kleinen Tochter.
Ich bin gebunden, und doch fühle ich mich so frei wie noch nie in meinem Leben. In Dir habe ich mein Gegenstück gefunden, wir sind Teile desselben Ganzen,
schrieb er in einem seiner Briefe. Und Elli beschrieb im Tagebuch den
Zauber einer neuen Welt,
die er ihr zeigte. Er stammte aus einer Familie, die seit Generationen Künstler hervorbrachte. Maler, Musiker, Bildhauer und Tänzer waren unter ihnen gewesen.
Caroline ging ins Schlafzimmer, nahm das Tagebuch vom Nachttisch, legte sich aufs Bett und las dort weiter, wo sie gestern aufgehört hatte.
Nur Peter schlägt aus der Art, er
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