In weißer Stille
den Impuls unterdrückte, sie an sich zu ziehen, zu küssen undseine kalten Hände unter ihre Bluse bis zu den warmen Brüsten zu schieben. Er wollte ihre vibrierende Stimme hören, wenn sie, wie immer, sagen würde:
Meine Güte, sind deine Hände aufregend kalt.
Er wollte fühlen, wie sich ihr Körper an seinen drängte, wollte endlich in ihr versinken und alles vergessen können. Den Hass in Sabine Groß’ Augen, das auf ihn zuschießende Messer, die Sekunde, in der er in den Abgrund geblickt hatte, die Angst, dass es eines Tages so enden würde. Sinnlos. Stattdessen trat er einen Schritt zurück.
»Ich denke darüber nach, dass ich gleich zum Serienmörder werde.« Er hob die Tüte hoch. »Die Muscheln sind noch in der Schale, obwohl ich sie ausgelöst bestellt hatte.«
»Dann lass dich nicht erwischen und komm schnell rein.«
Sie gingen in die Küche, den Raum, den er in diesem alten Haus mit seinen knarrenden Dielenböden und hohen Decken besonders mochte. Dühnfort holte die beiden Flaschen Pouilly Fumé aus der Tüte und legte eine in den Kühlschrank. Die andere entkorkte er, während Agnes Karotten und Zucchini aus dem Gemüsefach nahm und auf den Tisch legte. Er schenkte zwei Gläser voll, suchte sich eine große Metallschüssel im Schrank, ließ Wasser einlaufen und legte die Muscheln hinein. Agnes hatte bereits Baguette mit gesalzener Butter bestrichen und stellte den Teller neben ihm ab. Dann nahm sie eine Schürze vom Haken an der Tür und reichte sie ihm. Als er sie umgebunden hatte, stießen sie mit dem Wein an, aßen eine Scheibe Baguette und machten sich an die Arbeit.
Er bürstete eine Muschel ab und legte sie mit der gewölbten Seite in seine Hand. Dann schob er ein kurzes, stabiles Messer zwischen die Schalenhälften, drehte es einwenig und öffnete sie. Anschließend löste er das Fleisch und trennte die weiße Nuss vom orangeroten Corail. Er wollte lieber nicht daran denken, dass die Tiere während dieser Prozedur starben.
Agnes saß am Tisch, schälte Karotten und schnitt sie in feine Juliennestreifen. Sie fing seinen Blick auf und lächelte. »Das Bild, das du mir als Antwort gemailt hast, soll vermutlich nicht bedeuten, dass du in mir den Fels in der Brandung siehst, oder?«
»Und du denkst nicht wirklich, dass ich taktiere?«
»Nein, das nicht. Aber ich bin für den klaren Schnitt. Wenn du unser Verhältnis beenden willst, dann wäre es fair, das auch zu sagen.«
Das Wort
Verhältnis
traf ihn wie ein Pfeil. Hastig wandte er sich der nächsten Muschel zu. »Ich will es nicht beenden. Aber so kann es auch nicht weitergehen. Vielleicht könnten wir unsere
Beziehung
auf eine andere Basis stellen.«
Er hörte das Klackern des Messers auf dem Holzbrett, während sie die nächste Karotte in Streifen schnitt. »Du denkst, ich benutze dich. Du fühlst dich wie der Fels in der Brandung, der durch das stetige Anschlagen der Wellen erodiert, bis er klein und nichtig geworden ist. Ist es das? Du bist der Fels und ich die alles verschlingende See. Denkst du wirklich, ich spiele so ein dämliches Machtspielchen?«
So hatte er das noch nicht gesehen. Aber Agnes’ Interpretation seines Bildes enthielt einen Funken Wahrheit. Derjenige, der dem anderen die stärkeren Gefühle entgegenbrachte, befand sich in der schwächeren Position. Er war verletzbarer. Aber darum ging es ihm nicht. Er hatte Angst, sich in diesem
Verhältnis
selbst zu verlieren, seine Träume und Ziele aufzugeben.
»Macht? Nein. Eher ein Ungleichgewicht der Erwartungen.« Er öffnete die nächste Muschel, hielt sie mit der Linken umklammert. Das Pflaster an seiner Hand war feucht geworden, die Wunde pochte wieder.
»Bis jetzt hast du darüber noch nicht gesprochen. Aber ehrlich gesagt habe ich von dir einen ähnlichen Eindruck wie du von mir. Ich bin dein Betthupferl, und was darüber hinausgeht, scheint dich nicht sonderlich zu interessieren.«
Dühnfort fuhr herum. Hatte er tatsächlich diesen Eindruck hinterlassen? War das alles nur ein Missverständnis, weil er wie immer den Mund nicht aufbekam? Den Blick aus ihren blaugrauen Augen konnte er nicht interpretieren. Das Handy in seiner Hosentasche begann zu klingeln. »Entschuldige.« Er zog es heraus und meldete sich.
»Tino, ich grüße dich.« Es war sein Vater. Seine Stimme klang aufgeregt und zugleich fröhlich. »Stell dir vor, es ist so weit. Ich bin Opa. Victoria und Julius haben eine süße kleine Tochter. Er ist zwar enttäuscht, dass es kein Sohn ist, aber ich
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