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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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liebt die Zahlen wie ich, allerdings nicht nur in Form von Tabellen und Bilanzen, von Einnahmen- und Ausgabenrechnungen. Er zeigt mir die Mathematik in der Musik, die Geometrie in der Malerei, die Strukturen, die einer Choreographie zugrunde liegen. Eine faszinierende Welt voller Leidenschaft öffnet sich mir. Nicht nur in Ausstellungen und Konzerten, nicht nur im Theater und Ballett, wovon ich nie genug bekommen kann. Der Körper als Mittel des Ausdrucks – auch das bringt er mir bei. All das Fleisch, die Muskeln, Knochen und Sehnen, die meinen Körper ausmachen, der mir bisher als Last erschien … nun lerne ich durch ihn zu sprechen, welch wunderbare Sprache. Aber das ist nur ein Aspekt unserer Liebe, der ohne den anderen nicht möglich wäre. Wir sind füreinander bestimmt. Unsere Seelen schwingen im Gleichklang, wir verstehen uns durch Blicke …
    Das kann ich mittlerweile auch, dachte Caroline in einem Anfall von Sarkasmus. Gleichzeitig überflutete sie eine Welle von Schmerz und Sehnsucht. Sie stand auf und holte das Handy aus der Handtasche. Keine Nachricht von Marc. Sie wählte seine Nummer. Es war Zeit, sich bei ihm zu entschuldigen. Sie hatte ihn verletzt, auch wenn das nicht ihre Absicht gewesen war. Aber er meldete sich nicht. Auf der Mailbox wollte sie keine Nachricht hinterlassen.
    Sie ging zurück ins Schlafzimmer und las weiter in Mutters Tagebuch, bis zu der Stelle, an der sie schrieb, dass Peter und sie sich entschlossen hatten, ihre Partner zu verlassen.
Es wird Wolfi ungemein verletzen und kränken. Er ist ein so stolzer Mann. Ich weiß gar nicht, wie ich ihm das sagen soll. Aber noch habe ich Zeit, mir das zu überlegen. Peters Frau fährt nächste Woche für vier Wochen zur Kur, obwohl er herzkrank ist und sie nur an eingebildeter Migräne leidet. Wir wollen bis zu ihrer Rückkehr warten.
    Caroline legte das Tagebuch beiseite. Mutter hatte Vater verlassen wollen. Weshalb hatte sie das nicht getan? Hatte Peter ihr etwas vorgemacht und dann gekniffen, als es ernst wurde? Aber dann wären seine Briefe eine Farce. Und so klangen sie nicht.
    Brandenbourg. Irgendwoher kannte sie den Namen. Sie stand auf, startete den Laptop und ging ins Internet. Nach zwei Minuten wusste sie, weshalb ihr der Name vertraut war. Christian Brandenbourg war ein bekannter Geiger, Mitglied der Munich String Players, die für ihre außergewöhnlichen Vivaldi-Einspielungen bekannt waren. Eine CD des Orchesters stand sogar in Carolines Regal. Sie rechnete nach, wenn Christian 1963 zwölf Jahre alt gewesen war, dann konnte er der Sohn von Peter sein. Sie holte die CD, nahm das Inlay heraus und überflog seine Biographie. Christian Brandenbourg war im Jahr 1951 in München geboren. Caroline legte die Scheibe in den Player. Kurze Zeit später erklang der erste Satz von
La Primavera,
dem ersten Konzert der
Vier Jahreszeiten.
    * * *
    Dühnfort erreichte Mariaseeon nach halbstündiger Fahrt über Autobahn und Landstraße. Die Sonne war längst hinter den Hügeln versunken, der Himmel spannte sich nachtblau über dem Dorf. Häuser, Bauernhöfe, Scheunen und die alte Klosterkirche
Maria Himmelfahrt
mit ihrem Zwiebelturm standen wie Scherenschnitte vor dem dunkler werdenden Firmament. Dühnfort fuhr an den beleuchteten Schaufenstern der Apotheke, Buchhandlung und Bäckerei vorbei, passierte das
Gasthaus zur Post,
das sie im Sommer als Lagezentrum genutzt hatten, und bog in den Weg ein, der hinunter zum See führte.
    Linker Hand lag das Haus von Melanie und Franz Lechner, das er gemietet hätte, wenn er seine Wohnung in der Pestalozzistraße tatsächlich hätte aufgeben müssen. Auf dem Nachbargrundstück befand sich eine kleine Jugendstilvilla. Sie gehörte Agnes. Er parkte auf dem Kiesweg, holte Wein und Muscheln aus dem Kofferraum und ging zur Haustür. Vor dem Nachthimmel zeichnete sich die Blutbuche ab. Im letzten Sommer hatte sie einem Psychopathen, der Agnes belauert hatte, als Versteck gedient.
    Zwei Männer hatten versucht, sie zu vernichten, als sie von ihr zurückgewiesen wurden. Dühnfort atmete durch. Er wollte in die Zukunft blicken.
    Agnes öffnete. Sie trug Jeans, eine weiße Baumwollbluse und war barfuß, wie meistens. Ob sie wohl auch im Winter mit nackten Füßen durchs Haus, vielleicht sogar bis zum Briefkasten laufen würde? Er hielt es für möglich.
    »Hallo, Herr Kommissar, worüber grübelst du denn nach?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, während er

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