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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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stapfte die Flußstraße entlang und wechselte ständig die Tragehand, da ihm Handfläche und Finger vom Gewicht der Aktentasche weh taten.
    Am Dorfrand hatten drei zerlumpte Männer auf der Straße ein Feuer gemacht und rösteten Yamswurzeln in der Asche. Ein gewaltiger Riese war damit beschäftigt, Breitblätter in einer Wasserschüssel einzuweichen und sie um die Knollen zu wickeln. Ein grauer, hagerer Mann legte sie ins Feuer, und ihr ältlicher Kumpan bedeckte sie mit Asche. Zwei Fernsehgeräte standen im Sand; das eine lief ohne Ton, das andere war weggedreht und übermittelte seine Bilder dem leeren Pfad. »Angenehmen Abend«, sagte der Bürokrat.
    »Ebenso«, antwortete der hagere, farblose Mann. Durch die Löcher in seiner Hose sah man knochige Knie. »Nehmen Sie Platz.« Er rückte ein Stück beiseite, und der Bürokrat hockte sich neben ihn, sorgsam darauf bedacht, seine weiße Hose nicht zu beschmutzen. Auf dem blassen Bildschirm blickte ein junger Mann trübsinnig durch ein Fenster aufs aufgewühlte Meer hinaus. Hinter ihm stand eine Frau, die Hände auf seine Schultern gelegt. »Der Alte glaubt nicht, daß er eine Meerjungfrau sieht«, meinte der Hagere.
    »Nun, so sind Väter eben.« Bläulicher Qualm kräuselte sich in den eindunkelnden Himmel, es roch nach Treibholz und blühenden Zedern. »Seid ihr auf der Jagd?«
    »Könnte man sagen«, antwortete der Hagere. Der Riese schnaubte.
    »Wir sind Lumpensammler«, sagte der alte Mann grob. »Wenn wir Ihnen nicht gut genug sind, dann sagen Sie's und hauen Sie ab!« Alle drei blickten ihn unverwandt an.
    In der plötzlichen Stille hörte der Bürokrat das Programm, bei dem er die Männer gestört hatte. Byron, komm vom Fenster weg. Dort draußen ist nichts, bloß das kalte, unbeständige Meer. Geh ins Freie. Dein Vater denkt ...
    Mein Vater denkt nur ans Geld.
    »In meiner Aktentasche habe ich eine Flasche vakuumdestillierten Schnaps.« Er holte die Flasche heraus, nahm einen Schluck und bot sie den Männern an. »Wenn Sie probieren möchten ...«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Die Flasche machte zweimal die Runde, dann sagte der Hagere: »Sie wollen bestimmt zum Dorf.«
    »Ja, zu Mutter Gregorian. Vielleicht kennen Sie das Haus.«
    Die drei wechselten Blicke. »Aus der werden Sie nichts rausbekommen«, meinte der Hagere. »Im Dorf erzählt man sich so allerlei über sie, wissen Sie. Das ist schon ein Original.« Er deutete mit einem Nicken zum Fernseher. »Könnte man glatt senden.«
    »Erzählen Sie mir von ihr.«
    »Nee, lieber nicht.« Er hob einen streichholzdünnen Arm und zeigte zum Dorf. »Der Weg mündet auf die erste Straße am Hafen. Gehen Sie zum Fluß runter, dann bis zur fünften ...«
    »Sechsten«, meinte der Alte.
    »Dann eben bis zur sechsten. Gehen Sie zur Kirche und am Friedhof vorbei, unmittelbar an der Marsch entlang. Sie können's gar nicht verfehlen. Das Haus ist wie 'ne verdammte Burg.«
    »Danke.« Er stand auf.
    Sie sahen ihn nicht mehr an. Auf dem Bildschirm stand ein Albinomädchen ganz allein in einer Gruppe von heftig streitenden Erwachsenen. Eine heitere Gelassenheit strahlte von ihm aus, seine Augen waren leer und in sich gekehrt. »Das ist Eden, die Schwester des Jungen. Hat kein Wort geredet, seit es passiert ist«, bemerkte der Hagere.
    »Was ist passiert?«
    »Sie hat ein Einhorn gesehen«, antwortete der Riese.

    Aus der Luft hatte das Dorf ausgesehen wie eine urtümliche gedruckte Schaltung, wie sie Galilei benutzt haben mochte, um sein erstes Radioteleskop zu bauen, falls er da nicht zwei Zeitalter durcheinanderbrachte; ein Kamm mit krummen Zähnen, die vom Wasser aus landeinwärts führten, zu klein, als daß man irgendwelche Kreuzungen gebraucht hätte. Die Häuser waren klein und schäbig, doch aus den Fenstern ergoß sich ein warmes Licht, und im Innern murmelten Stimmen. Hin und wieder verjagte ihn ein Hund mit seinem durchdringenden Gekläff von einem Boot oder einem Hof. Abgesehen vom Gastwirt, der ihm aus dem Eingang des Hotels Wassermann zunickte, begegnete er im Hafenviertel keiner Menschenseele. Er bog auf die Marschstraße ab, den kalten, silbrigen Fluß im Rücken. Er gelangte zu einem ummauerten Grundstück, auf dem Gerippe von den Bäumen hingen, die Knochen ausgebleicht und bemalt und mit Draht zusammengebunden, so daß sie in der sanften Brise leise klapperten.
    Hinter dem Friedhof stieg das Gelände sanft an. Er kam an mehreren großen, dunklen Häusern vorbei, die noch nicht geplündert

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