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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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unser Gast interessiert sich nicht für unsere privaten Probleme.« Dem Bürokraten entging nicht, wie Ambrym von ihrer Schwester zurückwich, auch nicht die Verachtung, mit der sie es tat. »Darf ich mich nach Ihrem Anliegen erkundigen?«
    »Selbstverständlich.« Esme reichte ihm ein Bierglas aus edlem Kristall. »Ich danke Ihnen.« Sie legte einen Untersetzer aus spitzenartigem Porzellan auf den Tisch, das sogar noch im Abendlicht schwach durchscheinend war. Es war ein zauberhafter Hauch von einem Untersetzer, so zart, daß man es kaum glauben mochte. »Ich bin von der Abteilung für Techniktransfer, die der Systemregierung angeschlossen ist. Wir würden uns gern mit Ihrem Bruder unterhalten, aber als er sein Beschäftigungsverhältnis aufgab, hat er bedauerlicherweise keine Nachsendeadresse hinterlassen. Vielleicht könnten Sie ...?« Er brach ab und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Es war Lagerbier, dünn und nahezu geschmacklos.
    »Wir wissen überhaupt nichts«, meinte Linogre kühl.
    Ambrym hingegen fauchte: »Sind Sie sein Beauftragter? Er ist schon als Kind von zu Hause fortgegangen. Er hat keinerlei Ansprüche! Wir haben ein Leben lang gearbeitet, wie die Sklaven ...«
    »Ambrym«, warf ihre Schwester vielsagend ein.
    »Das ist mir egal. Wenn ich an die jahrelange Schufterei denke, an all das Leid, das Elend, das ich wegen ihr durchgemacht habe ...!« Sie wandte sich unmittelbar an den Bürokraten. »Jeden Morgen poliere ich ihre Reitstiefel, und das seit fünf Jahren! Ich muß vor ihr auf dem Boden knien, während sie mir erzählt, daß sie die wertvollsten Sachen Linogre hinterlassen will. Dabei wird sie das Bett niemals wieder verlassen.«
    »Ambrym!«
    Sie verstummten und beäugten sich gegenseitig. Sechsmal tickte das Metronom, während der Bürokrat dachte, die Hölle könne nicht viel anders sein. Schließlich gewann Linogre die Oberhand, und ihre Schwester schaute weg. Aus dem Schatten hervor fragte Esme ängstlich: »Möchten Sie noch ein Glas Bier?«
    Der Bürokrat hielt sein fast volles Glas hoch. »Nein, danke.« Esme erinnerte ihn an eine Maus, die sich furchtsam am Rand hielt, in der Hoffnung, irgendwann werde ein kleiner Krümel für sie abfallen. Die Mäuse auf Miranda waren jedoch dimorph, wie alles andere. Zum Ende des Großjahres schwammen sie ins Meer hinaus und ertranken in großer Zahl, und die wenigen Überlebenden verwandelten sich in ... - er versuchte sich zu erinnern - kleine amphibische Wesen, die Westentaschenrobben ähnelten. Ob Esme sich wohl ebenfalls verwandeln würde, wenn die Flut kam?
    »Glaub ja nicht, ich bekäme nicht mit, wie du ihr in den Arsch kriechst«, fuhr Ambrym sie an. »Die Harmlosigkeit in Person. Ich habe gesehen, wie du die silberne Soßenschüssel versteckt hast.«
    »Ich habe sie saubergemacht!«
    »Auf deinem Zimmer, ja, klar.«
    Panische kleine Äuglein. »Jedenfalls hat sie gemeint, die wäre für mich.«
    »Wann?« schrien beide Schwestern wütend im Chor.
    »Erst gestern. Ihr könnt sie ja fragen.«
    »Du weißt doch ...« Linogre blickte den Bürokraten an und senkte die Stimme, während sie ihm halb den Rücken zuwandte. »Du weißt doch, daß Mutter gesagt hat, wir sollten das Silber unter uns aufteilen, in gleichen Teilen. Das hat sie immer gesagt.«
    »Hast du deshalb die Zuckerzangen genommen?« wollte Ambrym unschuldig wissen.
    »Das habe ich nicht getan!«
    »Doch.«
    Aufmerksam lauschend stellte der Bürokrat sein Glas ab. Es landete ein wenig unsanfter als beabsichtigt auf dem Untersetzer, der mit einem leisen Knacken zerbrach.
    Die hellhörige Esme hatte es als einzige bemerkt. Sie schüttelte warnend den Kopf, wischte die Scherben zusammen und reichte ihm einen neuen Untersetzer, ehe ihre Schwestern überhaupt bemerkt hatten, was vorgefallen war.
    »Sobald Mutters Vermächtnis geregelt ist«, sagte Ambrym, »werde ich das Haus verlassen und niemals wiederkommen. Für mich gibt es ohne Mutter keine Familie mehr, und ich bin nicht mehr mit euch verwandt.«
    »Ambrym!« kreischte Esme.
    »Du solltest dich schämen, so daherzureden, wo Mutter oben im Sterben liegt!« schrie ihre ältere Schwester.
    »Sie wird nicht sterben, denn sie weiß, wie glücklich wir darüber wären. Aus purer Gehässigkeit wird sie weiterleben«, meinte Ambrym. Ihre Schwestern blickten sie mißbilligend an, allerdings ohne ihr zu widersprechen.
    Als sie unvermittelt innehielten, ging eine Art tiefer Befriedigung von ihnen aus, so als hätten sie soeben für ihn

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