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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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ein privates Drama aufgeführt und warteten nun auf den Applaus, damit sie sich bei den Händen fassen und verneigen konnten. Ihre Haltung schien ausdrücken, jetzt weißt du alles über uns. Die Szene war sorgfältig einstudiert, und dem Bürokraten war wohl bewußt, daß es keinem Besucher gestattet würde, das Haus zu verlassen, ohne eine Variante der Vorstellung miterlebt zu haben.
    Als der Arzt die Treppe herunterkam, sahen ihm alle drei erwartungsvoll entgegen. Er schüttelte feierlich den Kopf und ging hinaus. Bestenfalls war die Geste mehrdeutig.
    »Kommen Sie.« Linogre ging zur Treppe.
    Der Bürokrat folgte ihr in bedrückter Stimmung.

    Sie führte ihn in eine Kammer, in der es so düster war, daß er deren Ausdehnung kaum zu erkennen vermochte. Das Zimmer wurde beherrscht von einem riesigen Bett. Von in die Decke eingelassenen Haken hingen Bettvorhänge herunter, auf denen eine freundliche Landschaft dargestellt war, in der Satyre und Astronauten, Nymphen und Ziegen herumtollten. Die Säume schmückten die Sternbilder der alten Erde, Zauberstäbe, Orchideen und noch weitere Symbole der Zeugungsmagie. Die Farben waren verblaßt, und das braune Gewebe war von seinem eigenen Gewicht zerrissen.
    Im Bett ruhte auf einem bauschigen Thron aus Kissen eine unglaublich fette Frau. Unwillkürlich mußte er an eine Termitenkönigin denken, so unförmig und unbeweglich war sie. Ihr Gesicht war teigig-blaß, ihr Mund ein lautloser Schmerzensschrei. Eine beringte Hand ruhte auf dem Tablett, das über ihrem angeschwollenen Bauch schwebte, darauf ein Kreis von Patiencekarten; eine feierliche Prozession von Sternen, Blütenkelchen, Königinnen und Buben. Am Fußende flimmerte ein Fernseher mit abgestelltem Ton.
    Als der Bürokrat sich vorgestellt hatte, nickte sie, ohne von den Karten aufzusehen. »Ich spiele gerade ein Spiel, das Zwecklos heißt«, sagte sie. »Kennen Sie's?«
    »Wie gewinnt man es?«
    »Überhaupt nicht. Man kann die Niederlage nur hinausschieben. Dieses Spiel zieht sich schon über Jahre hin.« Sie sah zu ihrer Tochter auf.
    »Glaub ja nicht, ich wüßte nicht, wovon du redest.«
    »Die Struktur ist alles«, sagte sie. Nach jedem Satz mußte sie kurz Atem schöpfen. »Die Beziehungen zwischen den Dingen verändern und wandeln sich ständig; so etwas wie objektive Wahrheit gibt es nicht. Es gibt nur die Struktur oder das Muster, und das größere Muster, in das die kleineren Muster eingebettet sind. Ich begreife das größere Muster, darum habe ich gelernt, die Karten zum Tanzen zu bringen. Trotzdem wird das Spiel irgendwann unweigerlich zu Ende gehen. Wenn man die Karten liest, erfährt man eine Menge über das Leben.«
    »Das weiß doch jeder. Du bist nicht sonderlich originell. Sogar dieser Herr hier weiß es.«
    »Tun Sie das wirklich?« Zum erstenmal sah ihn die Mutter direkt an; sie und ihre Tochter warteten gespannt auf seine Antwort.
    Der Bürokrat hüstelte mit vorgehaltener Hand. »Ich würde Sie gern kurz unter vier Augen sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mutter Gregorian.«
    Sie bedachte Linogre mit einem kalten Blick. »Geh!«
    Als die Tochter die Tür hinter sich schloß, sagte ihre Mutter laut: »Sie wollen mich fortschaffen. Sie verschwören sich gegen mich und glauben, ich würde es nicht merken. Aber ich merke es. Ich merke alles.«
    Auf dem Korridor stöhnte Linogre laut auf. Ihre Schritte wanderten die Treppe hinunter.
    »Das ist die einzige Möglichkeit, zu verhindern, daß sie an der Tür horcht«, flüsterte die alte Frau. Und in lauterem Ton, beinahe schreiend, setzte sie hinzu: »Aber ich werde hierbleiben, ich werde hier sterben. In diesem Bett.« Leiser, fast beiläufig: »Das war mein Hochzeitsbett. In diesem Bett schlief ich zum erstenmal mit einem Mann.« Auf dem gespenstisch flackernden Fernsehschirm sah er Byron wieder aus dem Fenster schauen. »Es ist ein prima Bett. Ich habe alle meine Ehemänner mit hereingenommen. Manchmal mehrere auf einmal. Dreimal war es mein Kindbett - viermal sogar, wenn ich die Fehlgeburt mitzähle. Ich möchte darin sterben. Das ist wohl kaum zuviel verlangt.« Sie seufzte und schob das Tablett mit den Karten weg. Es schwenkte zur Wand. »Was wollen Sie von mir?«
    »Etwas ganz Einfaches, glaube ich. Ich möchte mit Ihrem Sohn sprechen, kenne aber seine Adresse nicht, und da hatte ich gehofft, sie wüßten, wo er sich gegenwärtig aufhält.«
    »Seit er mir weggelaufen ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Ihr Gesicht nahm einen

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