In Zeiten der Flut
waren, deren reichen Bewohner aber vor kurzem ausgezogen waren. Wahrscheinlich waren sie zum Piedmont gegangen, um am plötzlichen Wirtschaftsboom teilzuhaben. Als er das letzte Haus in der Straße erreicht hatte, kurz bevor sich der Boden sanft zur Marsch hin absenkte, war er am Ziel.
Das Haus war fleckig und von Klettfliegen verkrustet, und aus den dichtverhängten Fenstern drang tatsächlich kaum ein Lichtstrahl in die weite Welt hinaus. Die Holzplanken unter dem gesprenkelten Überzug aus Insektenpuppen waren jedoch mit hübschen Schnitzereien verziert und sorgsam verfugt. Er trat vor den wuchtigen Eingang und berührte das Türschild. Im Innern verkündete eine Stimme: »Besucher, werte Damen.« Zu ihm sagte die Tür: »Bitte warten Sie.«
Kurze Zeit später öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und ein dünnes, blasses Gesicht schaute heraus. Als es ihn sah, öffnete es sich überrascht, ließ einen Moment lang Angst erkennen, ehe es sich mißtrauisch wieder verschloß. Die Frau reckte herausfordernd das Kinn, so daß ihre Augen gleichzeitig vor ihm zurückzuschrecken schienen. »Ich dachte, Sie wären der Schätzer.«
Der Bürokrat lächelte. »Mutter Gregorian?«
»Ach, die.« Sie wandte sich ab. »Ich glaube, am besten treten Sie erst mal ein.« Er folgte ihr durch den dunklen Schlund eines mit einem braungewordenen Blümchenmuster tapezierten Korridors in den vollgestopften Bauch des Wohnzimmers. Die Frau ließ ihn in einem Sessel mit Löwenfüßen Platz nehmen. Der Sessel war ein wuchtiges Möbel, mit einer zottigen Mähne als Sitzunterlage, von der Fransen herunterhingen, und gepolsterten Armlehnen. Der Bürokrat war froh, ihn nicht von der Stelle bewegen zu müssen.
Eine Frau eilte ins Zimmer. »Ist das der Schätzer? Zeig ihm das Kristall, ich ...« Sie brach ab.
Tock. Ein zwischen zwei verstaubten Glocken eingeklemmtes Metronom hatte den Endpunkt erreicht und begann mit der langen, langsamen Rückwärtsbewegung, indem es gewichtig die Sekunden der Sterblichkeit abzählte. Ausgestopfte Tiere spähten von der Zinndecke mit Augen aus grünem, grauem und orangefarbenem Glas zu ihm herunter. Jetzt, wo er darauf achtete, war der Raum voller Gesichter. Schwerlidrig, mit offenen, mißbilligenden Mündern, waren sie in die Beine, Seitenteile und Sockel der Schreibpulte, Tische, Sideboards und Chinaschränke eingeschnitzt, die sich gegenseitig den Platz streitig machten. Selbst die hellen Mahagonimöbel waren mit extravaganten Schnitzereien verziert. Er fragte sich, wo die Späne jetzt sein mochten, die man bestimmt nicht weggeworfen hatte. Das Zimmer war außerordentlich kostbar und wäre mit der Hälfte der Einrichtung erheblich wohnlicher gewesen. Tock. Das Metronom meldete sich erneut zu Wort, und die Frauen musterten ihn noch immer, als würden sie niemals wieder sprechen.
»Also wirklich, Ambrym, wie lange soll ich denn noch warten, bis du mir deinen Freund vorstellst?«
»Das ist nicht mein Freund, er will zu Mutter.«
»Ein Grund mehr, sich der üblichen Höflichkeit zu befleißigen.« Sie streckte die Hand aus, worauf sich der Bürokrat erhob, damit er sie schütteln konnte. »Ich bin Linogre Gregorian«, sagte sie. »Esme! Wo steckst du?«
Eine dritte, mausbraun gekleidete Frau erschien, die sich gerade die Hände mit einem Handtuch abtrocknete. »Wenn das der Schätzer ist, kannst du sicher sein, daß er von dem kaputten ...« Sie brach ab. »Verzeihung, ich wußte nicht, daß Sie an der Tür waren.« Sie ging nicht wieder hinaus, stand einfach bloß da und schaute.
»Sei nicht blöd, Esme, dieser Herr ist wegen Mama hier. Bring ihm ein Glas Bier.«
»Du brauchst dir nicht ...«
»Die Gregorians haben immer ein ordentliches Haus geführt«, sagte sie mit Nachdruck. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Der Arzt ist gerade bei Mutter. Wenn Sie warten, wird sie Sie bestimmt empfangen wollen, wenn auch nur kurz. Sie müssen aber darauf achten, Mutter nicht aufzuregen, denn sie ist schwerkrank.«
»Sie liegt im Sterben«, meinte Ambrym. »Sie will nicht, daß wir sie zum Piedmont bringen, wo die guten Krankenhäuser sind. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, bis zum bitteren Ende in dieser Bruchbude zu bleiben. Ich glaube, sie wartet darauf, von der Flut fortgeschwemmt zu werden. Nicht, daß die Evakuierungsbehörde das zulassen würde.« Ein abwesender Ausdruck kam in ihre Augen. »Das hätte gerade noch gefehlt, daß wir als Arme zwangsumgesiedelt werden.«
»Verzeihung, Ambrym, aber ich glaube,
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