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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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herauszufordern. Du bist ein toter Mann, du weißt es bloß noch nicht.«
    »Er hätte bestimmt gern, daß ich das glaube.«
    »Die Männer sind alle Dummköpfe«, meinte Undine. Ihr Tonfall war wieder unbeschwert, ihr Blick verächtlich. »Ist dir das schon aufgefallen? Ich an deiner Stelle würde mir eine Krankheit zulegen oder moralische Bedenken hinsichtlich meines Auftrags vorschützen. Das wäre vielleicht ein dunkler Punkt in deiner Personalakte, aber darüber würdest du hinwegkommen.«
    »Wann bist du Gregorian begegnet?« Der Bürokrat schaufelte noch mehr Erde in die Trommel, was einen wilden phosphoreszierenden Wirbel auslöste.
    »Das war in meinem Gespensterjahr. Ich war ein Findelkind. Madame Campaspe kaufte mich in dem Jahr, als ich meine erste Menstruation bekam - sie hatte gemerkt, daß ich Anlaß zu Hoffnungen gab. Anfangs war ich ein scheues, schreckhaftes kleines Ding, und im Rahmen meiner Ausbildung unterwarf sie mich der Disziplin der Unsichtbarkeit. Ich hielt mich verborgen und sprach niemals. Ich schlief zu ungewöhnlichen Zeiten und an seltsamen Orten. Wenn ich Hunger hatte, stieg ich in fremde Häuser ein und stahl mir etwas zu essen aus den Schränken und von den Tellern. Wenn ich dabei gesehen wurde, verprügelte mich die Madame - aber nach dem ersten Monat wurde ich nicht mehr gesehen.«
    »Das klingt ziemlich grausam.«
    »Darüber steht dir kein Urteil zu. An dem Morgen, als die Madame über Gregorian stolperte, hatte ich mich in einem Glockenbusch verborgen. Sie stolperte buchstäblich über ihn - er hatte vor ihrer Tür geschlafen. Später erfuhr ich, daß er zwei Tage lang gelaufen war, ohne etwas zu sich zu nehmen, weil er so begierig darauf war, ihr Schüler zu werden, und dann bei der Ankunft zusammengebrochen war. Was gab das für ein Geschrei! Sie beförderte ihn mit Fußtritten auf die Straße, wobei er sich, glaube ich, eine Rippe brach. Ich kletterte auf das Dach ihres Geräteschuppens und schaute zu, wie sie ihn forttrieb. Ich ließ mich auf den Boden hinuntergleiten, stahl im Garten eine Rübe zum Frühstück und verschwand. Ich dachte, ich hätte den zerlumpten Mann zum letztenmal gesehen.
    Am nächsten Tag war er jedoch wieder da.
    Sie jagte ihn weg. Er kehrte zurück. Jeden Morgen war es das gleiche. Tagsüber organisierte er sich etwas zu essen - ich weiß nicht, ob er stahl, arbeitete oder seinen Körper verkaufte, denn ich hatte keine große Lust, ihm zu folgen, obwohl ich inzwischen am helllichten Tag mitten durch Rosendal spazieren konnte, ohne gesehen zu werden. Aber jeden Morgen hockte er wieder vor der Tür.
    Nach einer Woche änderte sie ihre Taktik. Wenn sie ihn auf der Schwelle entdeckte, warf sie ihm etwas Kleingeld hin. Die kleinen Keramikmünzen, die damals gebräuchlich waren, die orangefarbenen, grünen und blauen Chips - inzwischen verwendet man ja wieder Silbergeld. Sie behandelte ihn wie einen Bettler. Er war nämlich sehr stolz, weißt du, und an den Ärmeln seiner Lumpen war ein Rest schmutziggrauer Spitze; man sah, daß er aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte. Sie wollte ihn beschämen und dadurch vertreiben. Er aber fing die Münzen auf, steckte sie sich in den Mund und verschluckte sie demonstrativ. Madame Campaspe tat so, als bemerkte sie es nicht. Ich beobachtete das Duell zwischen ihrer Starrköpfigkeit und seinem dreckigen Grinsen vom Dachfenster des gegenüberliegenden Kosmetiksalons aus.
    Ein paar Tage später bemerkte ich auf der Veranda einen widerlichen Geruch und stellte fest, daß er hinter die Zierbüsche gekackt hatte. Ich fand dort einen Haufen seiner Hinterlassenschaften, vermischt mit den Keramikmünzen, die sie ihm zugeworfen hatte. Somit blieb der Madame nichts anderes übrig, als ihn aufzunehmen.«
    »Warum?«
    »Weil er das Zeug zum Magier hatte. Er besaß den unerschütterlichen, unbeirrbaren Willen, der zum Erlernen der Zauberei unabdingbar ist, und tat instinktiv das Unerwartete. Die Madame konnte ihn ebensowenig ignorieren wie ein Maler ein Kind mit einer perfekten visuellen Vorstellungskraft. Eine solche Gabe kommt in jeder Generation nur einmal vor.
    Sie hat ihn auf die Probe gestellt. Kennst du das Gerät, mit dem man Surrogaten den Geschmack von Speisen übermittelt?«
    »Die Netznahrung. Ja, sehr gut.«
    »Sie hatte es in einem Kasten untergebracht. Ein Außenweltler, der ihr Liebhaber gewesen war, hatte es ihr besorgt. Es war so umgebaut, daß sie die Grundspannung in den Nerveninduktor einspeisen konnte.

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