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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Kannst du dir vorstellen, wie es sich angefühlt hätte, wenn du die Hand ins Feld gehalten hättest?«
    »Es würde höllisch weh tun.«
    »Richtig.« Sie lächelte sanft, und für einen Moment blitzte hinter ihrem Lächeln das Gespenst des jungen Mädchens auf, das sie einmal gewesen war. »Ich kann mich noch gut an den Kasten erinnern. Ein simples Ding mit einem Loch an der Seitenwand und einem Regelwiderstand an der Oberseite, der von eins bis sieben ging. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir, und ihre langen Finger oben drauf und ihre blöde Wasserratte, die auf ihrer Schulter hockte. Sie meinte, wenn ich die Hand rausnähme, ehe sie mich dazu aufforderte, werde sie mich umbringen. Es war der schlimmste Moment meines Lebens. Nicht einmal Gregorian konnte ihn je übertreffen, so erfinderisch er auch war.«
    Undine schöpfte abermals Schaum ab. Ihr Tonfall war weich und erinnerungsschwer. »Als sie den Regler von der Null wegdrehte, hatte ich das Gefühl, ein Tier hätte mich bis aufs Blut gebissen. Dann drehte sie langsam, quälend langsam weiter, bis zur Eins, und das war noch eine Stufe schlimmer. Wie habe ich gelitten! Bei Stufe Drei brüllte ich, bei Stufe Vier war ich blind vor Schmerz. Bei Stufe Fünf riß ich meine Hand heraus und wollte lieber sterben.
    Da umarmte sie mich und meinte, bisher habe noch keiner so lange ausgehalten wie ich, und eines Tages werde ich berühmter sein als sie.«
    Lange Zeit schwieg die Hexe.
    »Als die Madame Gregorian hereinließ, schlüpfte ich durch ein offenes Fenster ins Nebenzimmer. Ich war leiser als ein Gespenst, ich schwebte lautlos von Schatten zu Schatten. Ich ließ die Tür einen Fingerbreit offen, damit ich aus dem Dunkeln ins Helle sehen konnte. Dann verkroch ich mich in einem Schrank. Durch den Türspalt hindurch beobachtete ich ihre fernen Spiegelbilder im Rauchfang. Gregorian war mager, barfuß und schmutzig. Ich weiß noch, wie nichtssagend er mir neben Madame Campaspes aristokratischer Erscheinung vorkam.
    Sie setzte sich neben ihn an den Kamin. Flüsternd erklärte sie ihm die Regeln. Sie nahm das Fransentuch vom Kasten.
    Ich sah, wie es in seinem Gesicht zuckte, als sie den Schalter berührte - unwillkürliche Muskelreflexe. Ich sah, wie er blaß wurde, wie er zitterte, als sie den Schmerz verstärkte. Er schaute sie unverwandt an.
    Sie ging bis zur Stufe Sieben. Sein Körper hatte sich versteift, seine Finger zuckten krampfhaft, aber er hielt den Kopf unnachgiebig erhoben, und er hatte nicht einmal geblinzelt. Ich glaube, die Madame hatte Angst vor ihm, wie er mit seinen zerlumpten Klamotten dasaß und sie anfunkelte mit seinen Augen, die wie Laternen waren.
    Ich war so still, daß mein Herzschlag aussetzte. Ich war vollkommen reglos. Gregorian bemerkte mich trotzdem. Er hob den Kopf und schaute in den Spiegel. Als er mich sah, grinste er. Ein schreckliches Grinsen, aber immerhin ein Grinsen. Da wußte ich, ganz gleich, was sie auch anstellte, kleinkriegen würde sie ihn nie.«

    »Ich bin jetzt fertig.« Sie bedeckte die Schale mit einem Stück Mull, und der Bürokrat folgte ihr in die Hütte, wobei ihm die schmalen Mondsicheln unter der Decke nacheinander zublinzelten.
    »Wozu ist das gut?« fragte er, als sie sich im Schneidersitz auf dem Bett gegenübersaßen, ihre Vagina ein lieblicher dunkler Schatten innerhalb des schützenden Halbkreises ihrer Beine. »Das Pulver, das du aus den Hunden gewinnst.«
    »Wir mischen es mit Tinte und spritzen es unter die Haut.« Sie schwenkte eine Hand vor seinem Gesicht; im Schatten war sie farblos und ohne Musterung. »Jedes Zeichen steht für ein Ritual, das eine Hexe vollziehen darf, und jedes Ritual repräsentiert Wissen, und dieses Wissen, richtig angewendet, bedeutet Macht.« Auf einmal leuchtete ein Bild auf ihrer Hand. Es war ein kleiner Fisch, der durch die Haut hindurchschimmerte. »Die Bilder nach Belieben an- und ausstellen zu können, ist ein Kennzeichen dieser Macht.« Eine nach der anderen leuchteten die Tätowierungen auf; eine Pyramide, ein Geier, ein Ährenkranz. Sterne explodierten zu subkutanen Novae, und aus ihrem Feuer formten sich Schlangen, Monde, alchemistische Symbole. »Die Mikroflora von Miranda ist mit der terranischen Biologie absolut unvergleichbar. Unter die Haut injiziert, bekommen sie gerade genug Nährstoffe, um am Leben zu bleiben, ohne weiter zu wachsen. Dort ruhen sie, hungernd und komatös, bis ich sie zum Leben erwecke.« Jetzt leuchteten sämtliche Tätowierungen.

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