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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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die Oberwelt, um es zu heilen und ausreifen zu lassen. Jetzt wird es ewig leben. Ich möchte wetten, der Außenweltler wird seinem Bastard die Strahlenbehandlung geben.«
    »Das ist doch Unsinn. Unsterblichkeit? Diese Technik gibt es doch gar nicht.«
    »Jedenfalls nicht hier unten.«
    Der Bürokrat spürte jähes Entsetzen. Sie glaubt daran, dachte er. Sie glaubt tatsächlich, daß das Wissen um die Unsterblichkeit existiert und daß es ihnen vorenthalten wird.
    Orphelin holte eine Broschüre aus seiner Manteltasche. »Ich empfehle Ihnen, das hier zu lesen und ernsthaft über die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen nachzudenken.«
    Der Bürokrat nahm es entgegen und besah sich den Titel. Der Antimensch. Neugierig geworden, schlug er das Heft wahllos auf und las: »Sämtliche Affekte und Bindungen des Willens lassen sich auf zwei zurückführen, nämlich auf Abneigung und Begehren, beziehungsweise auf Haß und Liebe. Der Haß wiederum läßt sich auf die Liebe zurückführen, woraus folgt, daß Eros die einzige Bindung des Willens ist.« Seltsam. Er blätterte zum Deckblatt vor:

    A. Gregorian

    Wütend zerknüllte er die Broschüre. »Gregorian hat Sie zu mir geschickt! Warum? Was will er von mir?«
    »Glauben Sie das wirklich?« fragte Orphelin. »Ich habe Gregorian seit damals nicht mehr gesehen. Trotzdem stelle ich ständig fest, daß ich für ihn arbeite. Ein Magier verschickt keine Botschaften, wissen Sie - er inszeniert die Wirklichkeit. Ich bin nicht froh darüber, dabei mitspielen zu müssen, und ich kann Ihnen auch nicht sagen, was er von Ihnen will, denn ich weiß es nicht. Eines jedoch weiß ich: Sie haben Ihr eigenes Schwarzes Tier. Die beiden vielleicht, die mich festgehalten haben? Einer von ihnen hat Sie vergangene Nacht unter Drogen gesetzt.«
    »Weshalb sollte ich Ihnen glauben?«
    »Suizid ist ein törichtes Spiel, nicht wahr?« sagte Orphelin. »Ich dachte, ich wäre gut darin, aber Gregorian war besser.«
    Er ging hinaus.
    Mutter Le Marie schaute ihm nach. Hinter ihr sah der Bürokrat die Autopsiemaschine, die jetzt, wo sie Undines Arm analysiert hatte, verstummt war. Der Sonnenschein war gewandert, so daß sie jetzt im Schatten lag.
    »Eine Frage«, sagte Mutter Le Marie. »Hat mein ... hat der Arzt Sie zu Ihrer Zufriedenheit behandelt?«
    Er bemerkte ihr Zögern und dachte an Orphelins Entfremdung von seinen Eltern, an seinen Namenswechsel und daß er der Sohn von Hotelbesitzern gewesen war. Eigentlich hätte er ihr antworten sollen, ja, Ihr Sohn war mir eine große Hilfe. Aber er konnte es nicht.
    Nach einer Weile ging die alte Frau fort.
    Eine Polizistin reichte ihm ein weißes Blatt Papier. »Die Autopsieergebnisse«, sagte sie. »Eine Frau in mittleren Jahren, gesund, tätowiert. Vor etwa einem Tag ertrunken. Reicht Ihnen das?«
    Der Bürokrat nickte bedächtig.
    »Ist gut.« Sie streifte einen Siegelring über, und sie schüttelten sich die Hand. Er gab ihr den Zettel zurück, dann wandte sie sich ab. Der andere Polizist schickte sich an, das Gerät hinauszuschieben, und der Bürokrat begriff, daß er Undine niemals Wiedersehen würde.
    Als er die Augen schloß, roch er ihren Mund und spürte das gleiche elektrische Kribbeln wie in dem Moment, als ihn ihre Lippen zum erstenmal berührt hatten. Diesen Augenblick würde er niemals vergessen. Gregorian hatte seine Haken gesetzt, und jetzt schaute der Magier aus der Ferne zu, wie er an den hauchdünnen Fäden zappelte. Erst zog er in die eine Richtung, dann in die andere. Orphelin hatte den Sternensaal erwähnt. Das hatte er bestimmt auf Geheiß Gregorians getan.
    Der Bürokrat kannte den Sternensaal gut. Er gehörte zu den drei Personen, die über den Schlüssel verfügten.
    Er sah auf die Broschüre hinunter, die er immer noch umklammert hielt, und in einem Anfall von Abscheu riß er sie entzwei und schleuderte die Fetzen auf den Boden.

    Von draußen vernahm man lautes Stimmengewirr, Angstschreie und Ausrufe des Erstaunens. Opa Le Marie tauchte auf der Treppe auf. »Was ist denn hier los?« nörgelte er. »Ist er denn immer noch nicht weg?« Einige Gäste spähten aus ihren Zimmern, ohne herauszukommen. Aus dem Fernsehzimmer ließ sich niemand blicken. Als der Bürokrat neugierig hineinspähte, war Mintouchian auf dem Sofa eingeschlafen. Ansonsten war der Raum verlassen, eine brüllende Leere mitten im Haus.
    Als Mutter Le Marie die Vordertür öffnete, schnappte sie nach Luft. Frische Luft und heller Sonnenschein strömten herein.

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