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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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singenden Meerjungfrauen. Krämer, das hier ist die wirkliche Welt. Sie müssen das Beste machen aus dem, was da ist.«
    Irgendwo in weiter Ferne hupte ein Laster, regelmäßig und drängend. Dem Bürokraten wurde klar, daß er ihn schon eine ganze Weile hörte. Der Krabbenzug hatte die Straße offenbar geräumt.
    Er stand auf. »Ich muß jetzt gehen.«
    Als er Weggehen wollte, trippelte Pouffe hinter ihm her. »Wir haben noch nicht über Geld geredet! Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wieviel ich bezahlen kann.«
    »Bitte. Es hat keinen Zweck.«
    »Nein, Sie müssen mir zuhören.« Pouffe weinte jetzt, heiße Tränen der Verzweiflung strömten über sein zerfurchtes Gesicht.
    »Belästigt man Sie, Sir?« erkundigte sich ein Kellner.
    Der Bürokrat zögerte einen Moment. Dann nickte er, und der Kellner drängte das Surrogat beiseite.
    Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, war der Neugeborene König nirgends zu sehen. Der Laster war weg. Chu stand auf dem Trittbrett des Lasters Löwenherz und lehnte sich ans Signalhorn. Als er näher kam, stieg sie herunter. »Sie sehen seltsam aus. Blaß.«
    »Kein Wunder«, meinte er. »Einer von Gregorians Leuten hat soeben versucht, mich umzubringen.«
    Als er seine Geschichte erzählt hatte, schlug sich Chu mit der Faust auf die flache Hand, wieder und wieder. »Dieser Dreckskerl!« sagte sie. »Was für eine Unverfrorenheit.« Sie war aufrichtig erbost.
    Der Bürokrat war überrascht und ein wenig geschmeichelt von Chus emotionaler Reaktion. Er war sich nie ganz sicher gewesen, ob sie ihn akzeptierte, und hatte immer den Verdacht gehabt, sie betrachte ihn bloß als einen Außenweltlertrottel, den man eher duldete als respektierte. Er empfand unerwartete Dankbarkeit. »Ich erinnere mich, daß Sie einmal gesagt haben, wir sollten das alles nicht persönlich nehmen.«
    »Also, wenn jemand Ihren Partner umzubringen versucht, dann ändern sich die Spielregeln. Dafür muß Gregorian büßen. Dafür werde ich sorgen.« Sie wandte sich abrupt ab und trat auf eine Krabbe. »Mist!« Sie kickte den zermalmten Körper fort. »Was für ein beschissener Tag.«
    »Kann man wohl sagen.« Der Bürokrat blickte sich um. »Wo ist Mintouchian?«
    »Weg«, meinte Chu. Sie stand auf einem Fuß und wischte sich die Schuhsohle mit einem Papiertaschentuch ab. »Er hat Ihre Aktentasche mitgenommen.«
    »Was?«
    »Das war der Gipfel. Sobald die Krabben weniger wurden, hat er den Motor angelassen, sich die Aktentasche geschnappt und davongemacht, als hätte er Feuer unter dem Hintern.« Chu schüttelte den Kopf. »Daraufhin begann ich zu hupen, um Sie zurückzuholen.«
    »Wußte er denn nicht, daß meine Aktentasche zu mir zurückkommen wird?«
    »Anscheinend nicht.«

    Die Aktentasche brauchte für den Rückweg eine halbe Stunde. Chu hatte mit dem Fahrer des Löwenherz bereits alles geklärt und war sich den Leichnam ihres Doppelgängers anschauen gegangen. »Müßte eigentlich gut für ein paar Lacher sein«, meinte sie grimmig. »Vielleicht sollte ich mir ein Ohr als Souvenir abschneiden.«
    Die Aktentasche kam geziert über die Straße angestakst. Als sie beim Bürokraten angelangt war, zog sie die Beine ein. Er hob sie auf. »War's schwer?«
    »Nein. Mintouchian hat sich nicht mal die Mühe gemacht, mich festzubinden. Ich habe gewartet, bis er ein paar Kilometer weiter flußabwärts war und sich sicher fühlte, dann habe ich das Fenster runtergekurbelt und bin rausgesprungen.«
    »Hm.« Einen Moment lang schwieg der Bürokrat. Dann sagte er: »Wir werden ein paar Stunden länger brauchen als geplant. Es wurde Gewalt angewendet, und wir müssen noch mit der Polizei reden. Müssen wahrscheinlich eine Aussage machen, vielleicht einen Bericht ausfüllen.«
    Die Aktentasche war mit seinen Stimmungen vertraut und sagte nichts.
    Der Bürokrat dachte an Gregorian, an den abrupten Wechsel von distanziertem Spott zu offener Feindseligkeit. Er hätte ebensogut sterben können. Er dachte an Mintouchian und an Dr. Orphelins Warnung, es gäbe einen Verräter. Alles hatte sich verändert, auf erschreckende Weise verändert. »Wirkte Mintouchian überrascht, als du aus dem Fenster gesprungen bist?«
    »Er sah aus, als hätte er eine Kröte verschluckt. Sie hätten dabei sein sollen - Sie hätten bestimmt gelacht.«
    »Wahrscheinlich.«
    Doch das bezweifelte er. Dem Bürokraten war nicht zum Lachen zumute. Ihm war überhaupt nicht zum Lachen zumute.

10 - Eine Messe für die Toten
    An diesem Morgen

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