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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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wehte die kühle Brise einen Schwarm Klettfliegen landeinwärts, und als der Bürokrat erwachte, war das Hausboot mit ihren Schalen überkrustet. Um die Tür aufzubekommen, mußte er sich dagegenstemmen. Der Salzgeruch des Ozeans war überall, wie der Geruch einer Frau, die nach einer Liebesnacht wieder gegangen ist und nur das mehrdeutige Versprechen zurückgelassen hat, sie werde wiederkommen.
    Er machte ein finsteres Gesicht und spuckte über die Bordwand.
    Das untere Trittbrett der Verandatreppe fehlte. Der Bürokrat sprang auf den ausgetretenen Flecken schwarzer Erde hinunter. Er bahnte sich einen Weg zwischen den verstreuten Rümpfen des Schiffsfriedhofs hindurch.
    »He!«
    Er blickte auf. Ein blondhaariger Junge stand nackt auf einer aufgebockten Yacht mit einem eingedellten Bug und pinkelte gerade in die Rosenbüsche. Einer von der Lumpensammlergang, die hier lebte. Er winkte mit der freien Hand. An seinem Handgelenk glitzerte stumpf das Registrierungsarmband. »Wonach suchen Sie? Wir haben einen ganzen Haufen gefunden. Kommen Sie rüber und bedienen Sie sich.«
    Fünf Minuten später hatte der Bürokrat ein festverschnürtes Bündel in seinem Zimmer verstaut und sich wieder auf den Weg nach Clay Bank gemacht. In der Ferne bimmelte eine Glocke, welche die Gläubigen zur Andacht rief. Der Himmel war bedeckt und grau. Es fiel ein leichter, kaum wahrnehmbarer Nieselregen.

    So weit im Osten war das Ackerland zu fruchtbar, um es zu vergeuden, und abgesehen von den Nutzbauten befanden sich die meisten Gebäude dicht am Fluß. Häuser aus rohen Brettern drängten sich am Rande eines hohen Steilufers. Auf halbem Weg zum Wasser hinunter hatte man einen Gehweg in den Hang geschnitten und überdacht und dahinter kleine Läden und Lagerräume ins Ufer gegraben.
    Leutnant Chu erwartete ihn auf dem Gehsteig vor dem Speiselokal. Vertäute Boote tanzten auf dem Fluß; das Pier darüber bestand mehr aus Löchern als aus Brettern, so daß die Kaianlage wohl mehr im Sinne eines beau idéal zu verstehen war, dem eher die hehre Absicht als die Verwirklichung zur Ehre gereichte. In diesem Moment wurde das Nieseln zu einem heftigen Schauer; die Tropfen zischten auf der Wasseroberfläche. Der Bürokrat und Chu traten geduckt ein.
    »Ich habe wieder eine Warnung erhalten«, sagte der Bürokrat, als sie sich an einem freien Tisch niedergelassen hatten. Er öffnete die Aktentasche und holte eine Handvoll schwarzer Federn heraus. Ein Krähenflügel. »Als ich gestern Abend nach Hause kam, war er an meiner Tür festgenagelt.«
    »Komisch«, meinte Chu. Sie breitete den Flügel aus, untersuchte das blutige Schultergelenk, streckte die winzigen Finger am Mittelhandgelenk aus, dann gab sie den Flügel zurück. »Das waren bestimmt die Lumpensammler. Ich verstehe nicht, warum Sie unbedingt dort wohnen bleiben wollen.«
    Der Bürokrat zuckte gereizt die Achseln. »Wer mir diese Streiche auch spielen mag, dahinter steckt jedenfalls Gregorian. Ich kenne seine Handschrift.« Insgeheim machte er sich Sorgen darüber, daß Gregorian abermals seine Taktik geändert und nach dem Mordanschlag wieder zu Spott und Sticheleien übergegangen war. Das ergab einfach keinen Sinn.
    Das Lokal war schmal und trüb erleuchtet, ein Tunnel, der geradlinig in den Uferwall gegraben war. Die Tische in der Mitte hatte man aus dem Lichtkreis, der durch das einzige milchige Oberlicht fiel, weggezogen. Aus den leckenden Fugen tropfte es in bereitstehende Konservendosen. Hinten lachten die Küchengehilfen und schwatzten, während die Flammen eines Gasherds ihre Gesichter mit flackernden Schatten überzogen. Eine Kellnerin kam an ihren Tisch und knallte Schneidebretter mit Pökelfleisch und gestampften Yamswurzeln vor sie hin. »Haben Sie schon ...?«
    »Nein.« Die Jungs von der Evakuierungsbehörde am Nachbartisch lachten. »Wenn Sie frühstücken wollen, müssen Sie mit dem vorliebnehmen, was Ihnen vorgesetzt wird.«
    »Arrogantes Miststück«, murmelte Chu. »Wenn das nicht das letzte Lokal in Clay Bank wäre, würde ich ...«
    Ein junger Soldat beugte sich vom Nachbartisch herüber. »Nehmen Sie's leicht«, sagte er mit dem breiten nördlichen Akzent, der allen Schlägern von den örtlichen Behörden zu eigen war, Leuten aus dem Tideland, die man aus den Provinzen Blackwater und Vineland hergebracht hatte, weil sie hier keine Bindungen hatten. »Das letzte Luftschiff kommt morgen vorbei. Sie müssen ihre Speisekammer räumen.« Seine Mütze, die er sich unter einen

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