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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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lächelte. »Probieren Sie's.«
    Sie zögerte, nickte. Das Bild wechselte wieder zu den Drulen, die durch die Blasen flüchteten, hin und wieder nach einem Krustentier tauchten und es mit ihren kleinen, scharfen Zähnen zermalmten. Selbst auf dem Bildschirm mit seiner beschränkten Bild- und Tonwiedergabe war die Lust noch spürbar, welche die Wesen beim Schwimmen empfanden.
    »Oh«, machte sie. Sie riß die Augen auf. »Oh!«
    Goguette wusch Geschirr. Eine Tür wurde aufgerissen, und Marivaud kam mit regennassem Anorak und einem Strauß frischer Schnittblumen im Arm herein. »Sie haben keine Zeit«, sagte sie zum Bürokraten, als sie die Blumen zu arrangieren begann. »Wir springen ein paar Stunden vor, bis zum Einsetzen der Flut.«
    Das Meer brüllte. Die Besatzungsmitglieder, die noch nicht am Geländer standen, verließen ihre Posten und rannten nach Steuerbord. Es war ein unglaublicher Anblick; alles Wasser der Welt buckelte sich empor, als hätte der Planet plötzlich beschlossen, daß er einen höheren Horizont brauchte. Die Atlantis neigte sich erwartungsvoll zur Seite. Die Großmutter aller Flutwellen, die polare Tsunami, kam unter ihnen vorbei. Das Schiff schoß in die Höhe, emporgetragen von der Macht eines Eiskontinents, der von einem Moment auf den anderen schmolz.
    Der Bildschirm wechselte von Gesicht zu Gesicht, von einem Blickwinkel zum anderen, zeigte aufgerissene Augen, verzerrte Gesichter. Die Menschen standen vollkommen reglos da, vor Ehrfurcht erstarrt.
    »Wie wollen sie flüchten?« fragte der Bürokrat. »Wollen sie denn gar nichts unternehmen?«
    »Natürlich nicht.«
    »Wollen sie denn sterben?«
    »Natürlich nicht.« Das Bild flackerte, und die menschliche Besatzung verwandelte sich in Metall. Die Atlantis wurde zu einem Totenschiff, zu einer mit Skeletten bemannten Monstrosität. »Die Surrogate wurden auf Miranda erfunden«, meinte Marivaud stolz. »Wir haben sie als erste hergestellt.« Der Overlay setzte wieder ein, und die fleischliche Umhüllung der Skelette wurde wiederhergestellt.
    Eine grauenhafte gläserne Stille senkte sich im nahen Umkreis über das Meer, so als hätte die Flutwelle seine Oberfläche straff gespannt. Während sie seitlich am Schiff emporschwebten, schien das Wasser unter ihnen zu schrumpfen. Der Bürokrat hörte, wie es sich flüsternd verteilte. Das Meer stieg an, bis es den Bildschirm ausfüllte. Der Himmel verschwand, und noch immer schwoll das Meer an. Ein Windschwall fegte übers Deck.
    Dann hatten sie die Krone der Flutwelle erreicht. Dahinter lag eine Wand aus weißem Gischt, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte - eine Sturmbö. Sie raste dem Schiff entgegen. In die Besatzungsmitglieder kam Bewegung, am Geländer bildeten sich Grüppchen und Lücken.
    Gogo schaute zum Netzmaschinisten. Ihre Augen funkelten vor Erregung. Sie biß sich auf die Lippe, streifte sich das Haar eines aufgelösten Zopfs aus der Stirn. Ihr Gesicht glühte vor Leben. Sie wollte Underhill umarmen.
    Underhill schreckte vor ihrer Berührung zurück. Er schaute sie angewidert an. In diesem unbedachten Moment sagte sein Gesicht deutlicher, als Worte es vermocht hätten: Du bist bloß eine Frau.
    Dann hatte die Bö das Schiff erreicht und legte es auf die Seite. Der Sturm verschluckte es.
    »Ah«, seufzte Marivaud. Ihre Schwester nahm ihre Hand. Leise, ganze sachte, begannen sie zu applaudieren.
    In einem fernen Studio erhoben sich die Schauspieler von ihren Gates und verneigten sich.
    Marivaud schaute mit ausdruckslosem Gesicht hoch. Das Landhaus - Schwester, Kaminfeuer, alles - löste sich in einem Regenschwall auf. »Eine Woche später wurden die Leichen angeschwemmt.«
    »Was?«
    »Mit Strahlenverbrennungen. Wir wußten nicht so gut Bescheid über die Eingeborenen, wie wir geglaubt hatten. Wir wußten nicht, daß sich ihre Gehirnchemie im Großwinter verändert. Vielleicht veränderte sich aber auch ihre Psyche. Das Warnsignal, das sie von den Türmen fernhalten sollte, blieb jedenfalls ohne Wirkung. Es war eine Art Wahnsinn. Vielleicht wurde ihr Paarungsinstinkt angeregt. Vielleicht mochten sie auch bloß die Wärme. Wer weiß das schon?«
    Marivaud schloß die Augen. Tränen quollen zwischen den Lidern hervor. »Wir waren machtlos. Das Meer war stark aufgewühlt - wir kamen einfach nicht durch. Bloß die Signale, die wir nicht abstellen konnten. Während sie starben, übertrugen die Türme die ganze Zeit ihre Qual. Es war, als hätte man einen abgebrochenen Zahn im Mund

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