INAGI - Kristalladern
bereit war. Falls sich herausstellen sollte, dass sie die Energieaura der Drachen tatsächlich spüren konnte, würde sie sich Fragen stellen müssen, über die sie lieber nicht nachdenken wollte. Und sollten die Gohari davon erfahren, könnte sich ihr Leben noch einschneidender verändern als durch ihre Fähigkeit, Shigen vorherzusagen.
Zum Glück vergingen die folgenden Tage ohne besondere Vorkommnisse. Beinahe jede freie Minute verbrachte Ishira damit, an der Landkarte von Inagi zu sticken. Inzwischen war das Werk so gut wie vollendet und sie war ziemlich stolz auf ihre Arbeit. Wie auf der ursprünglichen Karte hatte sie Minensiedlungen und Städte schwarz markiert. Soshime hatte sie als einzigen Ort rot umrandet, damit Kanhiro sich orientieren konnte. Rondar hatte nie etwas davon verlauten lassen, dass bei ihm eingebrochen worden war, also hatte er entweder den Schnitt im Fenster tatsächlich nicht bemerkt oder er ging davon aus, dass er den Dieb gestört hatte, bevor dieser ins Zimmer hatte einsteigen können. Jedenfalls brauchte sie sich wegen ihres kleinen Ausflugs keine Gedanken mehr zu machen. Sie musste nur darauf achten, dass die Stickerei immer gut versteckt war.
Die Mahlzeiten nahm sie wie üblich gemeinsam mit Rondar ein. Manchmal gesellte sich auch Rohin zu ihnen. Am Tag des Neuen Mondes ließen sie sich mit dem Frühstück etwas mehr Zeit, da Ishira in der Mine keine Pflichten erwarteten. Rondar und der junge Telan waren in eine Unterhaltung über seine neue Waffe vertieft, die er ‚Drachentöter‘ getauft hatte. Er hatte sie dem Bakouran offenbar am vergangenen Nachmittag vorgeführt. Ishira erfuhr, dass er auf zweien der drei Wachtürme je ein Sprengrohr installiert hatte. Seinen Worten zufolge war nunmehr alles bereit, um die Amanori zu empfangen, sollten sie kommen.
»Wir könnten allerdings bald ein noch größeres Problem bekommen als die Drachen, falls es uns nicht gelingt herauszufinden, weshalb die Kristallenergie immer schwächer wird«, murmelte er unvermittelt, während er mit den Augen zwei Reshiri folgte, die gerade den Gastraum verließen.
Ishira horchte auf. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, die Hauer in den einzelnen Minen nach der Energie zu fragen, weil sie so viele andere Dinge im Kopf gehabt hatte. Wollte Rohin andeuten, dass sie überall auf der Insel nachließ? Dass nicht nur einzelne Kristalladern miteinander verbunden waren, wie Mifune vermutet hatte, sondern sämtliche Adern auf der ganzen Insel – wie Fäden in einem Spinnennetz? Wenn die Energie versiegte, würden in diesem Fall alle Kristalle auf einen Schlag ihr Leuchten verlieren. Kein Wunder, dass die Gohari sich Sorgen machten.
Rondar räusperte sich und bedachte Rohin mit einem vielsagenden Blick. Der junge Gelehrte sah einen Moment verwirrt aus, dann lachte er verlegen. »Entschuldige. Ich sollte nicht gerade vor deinem Schützling darüber jammern, dass bei uns irgendwann das Licht ausgehen könnte.«
Auch wenn Ishira zu schätzen wusste, dass Rondar ihre Gefühle schonen wollte, indem er nicht in ihrer Gegenwart erörterte, dass die Gohari vielleicht bald ohne den Luxus des Kristalllichts, das mit dem Blut und Schweiß der Inagiri erkauft war, auskommen müssten, hätte sie sich gewünscht, dass er Rohin nicht unterbrochen hätte. Die Worte des Telan beunruhigten sie mehr, als sie für möglich gehalten hätte. Beklommen fragte sie sich, was mit den Bergleuten geschehen würde, sollten die Kristalle für die Gohari ihren Wert verlieren. Welches Los würden die Eroberer ihren Sklaven stattdessen aufbürden?
* * *
Einige Zeit später saß Ishira am Rande des Übungsplatzes und sah ihrem Begleiter dabei zu, wie er die jungen Kireshi im Schwertkampf trainierte. Er hatte auf dieser Reise damit begonnen, in den Siedlungen, in denen sie sich länger aufhielten, kostenlosen Unterricht zu geben, und soweit sie mitbekommen hatte, erfreute sich sein Angebot reger Nachfrage. Rondar ging ganz in seiner Aufgabe auf. Er schenkte seinen Schülern nichts, sondern ließ sie hart arbeiten, aber keiner der jungen Gohari beschwerte sich darüber. Sie alle strengten sich an, es beim nächsten Kampf besser zu machen. Ishira hatte Spaß daran, bei den Scheingefechten zuzuschauen, doch gleichzeitig fragte sie sich, woher Kanhiro sein Vertrauen nahm, dass die Inagiri es mit den Kampfkünsten der Eroberer aufnehmen könnten.
Der Gedanke an ihren Freund löste in ihrem Innern ein wehmütiges Ziehen aus. Sie sehnte sich
Weitere Kostenlose Bücher