INAGI - Kristalladern
danach, bei ihm zu sein und von seinen starken Armen gehalten zu werden. Wie lange würde es noch dauern, ehe sie endlich nach Hause zurückkehren konnte? Und wären ihr wieder nur wenige Tage mit Kanhiro vergönnt?
Ishira versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf Rondar und seine Schüler zurück zu lenken, doch sie war zu aufgewühlt, um länger stillzusitzen. Sie sprang von der hölzernen Absperrung und lief in Richtung Gasthaus, um das Rehime zu holen. Den Kopf hielt sie gesenkt, um weniger aufzufallen. Rondar hatte ihr zwar erlaubt, sich frei im Lager zu bewegen, doch besonders wohl fühlte sie sich allein nicht. Sie kam sich schutzlos vor, auch wenn die meisten Kireshi sie inzwischen kannten und in Ruhe ließen, weil sie sich keinen Ärger mit ihrem Begleiter einhandeln wollten. Als sie bei den Lagerhäusern abbog, wehte ihr eine heftige Windböe die Haare ins Gesicht und so sah sie den Gohari, der ihr forsch um die Ecke entgegenkam, erst im letzten Moment. Sie stoppte so ruckartig, dass sie ins Straucheln geriet. Dennoch wäre sie beinahe mit dem Mann zusammengestoßen.
»Hast du keine Augen im Kopf, Mädchen?« fuhr dieser sie an.
»Bitte, verzeiht, Deiro«, entschuldigte Ishira sich erschrocken, während sie sich das Haar aus dem Gesicht strich. »Ich –« Diese Stimme. Ihr Blick flog nach oben. Sie hatte sich nicht getäuscht.
Kiresh Yaren trug seine gewohnte Gewittermiene zur Schau. Seine Augen, grau wie Regenwolken, blitzten sie an. Ungeduldig wollte er sie aus dem Weg schieben, doch mitten in der Bewegung verharrte er. Einen Augenblick lang sah er sie verdutzt an, bevor er beinahe hastig einen Schritt zurücktrat, als wollte er Abstand zwischen sie bringen. Im nächsten Moment hatte er seine Fassung wiedererlangt. Sein Blick richtete sich auf einen Punkt über ihrem Kopf. »Ist Rondar in der Nähe?« fragte er ausdruckslos.
»Ja«, bestätigte sie und wunderte sich darüber, wie gleichmütig ihre eigene Stimme klang, obwohl ihr Herz auf einmal flatterte, als wäre in ihrer Brust ein kleiner Vogel eingesperrt. Sie wies schräg hinter sich. »Er ist mit seinen Schülern auf dem Übungsplatz.«
In Kiresh Yarens Gesicht wechselten sich in rascher Folge Verwirrung, Verwunderung und Erleichterung ab. »Also unterrichtet er tatsächlich wieder«, murmelte er. Abrupt setzte er sich in Bewegung und ließ sie stehen.
Ishira stand noch genauso da, als seine Schritte bereits eine ganze Weile verklungen waren. Ihr Gesicht glühte vor Verlegenheit. Warum musste sie von allen Gohari ausgerechnet in ihn hineinlaufen? Wieso war er überhaupt hier? Sie legte eine Hand auf ihr immer noch wild pochendes Herz, irritiert, dass das Zusammentreffen mit dem jungen Kiresh sie dermaßen aus der Fassung gebracht hatte, so unerwartet es auch gewesen war. Rasch setzte sie ihren Weg zur Herberge fort.
Nachdem sie das Rehime aus ihrem Zimmer geholt hatte, überlegte sie, wohin sie sich verziehen sollte, um ungestört zu sein. Auf keinen Fall in die Nähe des Übungsplatzes. Schließlich entschied sie sich für eine Stelle zwischen einer Reihe Lagerhäusern und dem nördlichen Wachturm. Dort gab es eine Gruppe kleiner Felsen, auf denen sie sitzen konnte und gleichzeitig vom Lager aus nicht direkt zu sehen war. Falls Rondar sie suchen sollte, müsste er dem Klang der Musik folgen. Aber er unterhielt sich jetzt sicherlich eine Weile mit seinem ehemaligen Schüler, so dass er sie kaum vermissen würde. Sie wickelte das Instrument aus seiner Hülle und stützte es vor sich auf dem felsigen Untergrund ab. Langsam strich sie mit dem Bogen über die neuen Saiten, die Rondar ihr in Inuyara gekauft hatte, und spannte sie leicht nach. Sie besaßen einen unglaublich reinen Klang. Wie die Luft nach einem Regenschauer.
Der Vergleich brachte die Erinnerung an ihren letzten Tagtraum zurück. Es war an einem Abend vor etwa einem Mond gewesen, irgendwo zwischen Iyama und Owikatta, als sie wie so oft auf Rondars Bitte hin am Lagerfeuer für ihn gespielt hatte. Der Himmel hatte nach einem Gewitterguss aufgeklart und die klare kühle Luft hatte wie Rume in ihrer Kehle geprickelt. Auch in ihrem Traum war das so gewesen. Sie war aus der Höhle gekrochen, in der sie vor dem Gewitter Zuflucht gesucht hatte, und mit kraftvollen Schlägen ihrer Schwingen in den blankgeputzten Himmel aufgestiegen – immer höher und höher, bis die Welt unter ihr auf die Entfernung ausgesehen hatte wie eine zum Leben erweckte Landkarte.
Es war schon seltsam, sinnierte
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