INAGI - Kristalladern
Ishira, während sie die ersten Takte einer ruhigen Melodie anschlug. In diesen Halluzinationen fühlte sie sich entweder unglaublich frei oder sie wurde von Schmerz und Wut beherrscht. Spiegelten sich darin ihr eigener Wunsch nach Freiheit und ihr Zorn auf die Gohari? Aber warum musste sie sich deshalb in einen Amanori verwandeln? Ishira kaute auf der Innenfläche ihrer Wange. Wenn es die Energie war, die die Wahnvorstellungen auslöste – wieso überkamen diese sie nur dann, wenn sie auf dem Rehime spielte? Als wäre ihr Geist außerhalb der Mine dafür nur empfänglich, wenn sie sich der Musik hingab. Oder als würde umgekehrt die Musik sie freisetzen…
Waren es die Berggeister, die ihr diese Träume schickten? Doch was wollten sie ihr damit sagen? Und weshalb ließen sie sie ausgerechnet die Gestalt eines Amanori annehmen? Irgendetwas musste es doch zu bedeuten haben. Jedenfalls wollte sie das glauben. Denn die einzige andere Erklärung wäre, dass sie schlicht und einfach den Verstand verlor.
* * *
Rondar zu finden, war nicht schwer. Als Yaren den Trainingsplatz erreichte, fiel ihm sofort die Traube junger Kireshi auf, die seinen Mentor umringten. Es war ein vertrauter Anblick. Als er selbst im Alter dieser Jungen gewesen war, hatten er und seine Mitschüler Rondar auf dieselbe Weise belagert. Er ging näher. Sein Seresh hatte ihn noch nicht bemerkt. Er war zu beschäftigt damit zu demonstrieren, wie man das Kesh halten musste, damit der Gegner es einem nicht aus der Hand schlagen konnte. Man durfte es nicht zu locker handhaben, aber die Finger durften auch nicht krampfhaft um den Griff geschlossen sein, sonst ließen sich keine geschmeidigen Bewegungen ausführen.
Einige der jungen Männer prusteten los. Yaren hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was der Grund für ihren Heiterkeitsausbruch war. Rondar hatte ihm und seinen Mitschülern damals erklärt, eine Waffe sei wie eine Frau: Man müsse sie fest im Griff haben, ihr aber gleichzeitig Freiraum geben, wenn sie tun sollte, was man von ihr wollte. Peron hatte ihm daraufhin grinsend ins Ohr geflüstert, dass in diesem Fall eigentlich seine Mutter die Schwertmeisterin sein müsste. Sie hatten sich beide vor Lachen kaum halten können.
In Yarens Herz flackerte der Schmerz auf, der allzeit dicht unter der Oberfläche schwelte. Jener Tag schien unfassbar weit entfernt. Damals waren sie alle so unbeschwert, so voller Lebensfreude gewesen, als gäbe es nichts, das ihnen etwas anhaben könnte. Und dann war in einem einzigen Augenblick alles vorbei gewesen.
Doch es tat gut zu sehen, dass wenigstens Rondar in sein früheres Leben zurückgefunden hatte.
Auf dem Weg hierher hatte Yaren einmal mehr mit sich gerungen, ob er mit seinem Seresh reden sollte, doch er hatte entschieden, dass die Antwort endgültig Nein lautete. In einem Winkel seines Verstandes wusste er nur zu gut, dass sich für ihn nichts ändern würde, wenn er sein Gewissen erleichterte. Selbst wenn Rondar ihm verzeihen sollte, würde er keinen Frieden finden, weil er sich selbst nicht vergeben konnte. Es gab keine Rückkehr. Sein altes Leben hatte vor sechs Jahren unwiderruflich geendet und alles, was er seither tat, diente lediglich dazu, den Schwur zu erfüllen, den er damals gelobt hatte. Zweiunddreißig Amanori wollte er ins Jenseits befördern – so viele, wie Larika und Peron zusammen an Jahren gezählt hatten, als sie starben. Danach würde er den Tod mit offenen Armen willkommen heißen. Unwillkürlich tastete er nach seinem Lederhalsband und fuhr über die Zähne, die so glatt waren, als hätte er sie poliert. Es fehlten nur noch neun.
Der Ring junger Männer löste sich auf. Als Rondar sich umwandte und Yaren entdeckte, erhellte aufrichtige Freude sein Gesicht. Yaren krümmte sich innerlich. »Yaren! Wie es scheint, kreuzen sich unsere Wege neuerdings häufiger.« Das Lächeln seines Seresh vertiefte sich. »Ich werde nicht behaupten, dass ich etwas dagegen hätte. Bist du zufällig hier?«
Yaren schüttelte den Kopf. »Ich war vor ein paar Tagen in Inuyara, um bei Pelen meine Waffen schärfen zu lassen. Der Schmied in Ebosagi hat sich nicht an mein Kesh herangewagt. Pelen hat mir erzählt, dass du ihn besucht hast und dass sein Sohn eine Waffe gegen die Drachen entwickelt hat, die er hier testen will. Ich wollte unbedingt mehr darüber erfahren.«
Die jungen Kireshi waren stehen geblieben, als Rondar Yarens Namen gerufen hatte, und flüsterten aufgeregt miteinander.
Weitere Kostenlose Bücher