INAGI - Kristalladern
hervorzog, überkam sie erneut das schlechte Gewissen, weil sie das Vertrauen ihres Begleiters auf diese Weise missbrauchte. Was würde er von ihr denken, wenn er wüsste, dass sie in sein Zimmer eingedrungen war und in seinen Sachen gewühlt hatte? Mit schweißfeuchten Fingern umklammerte Ishira die Karte. Ich tue nichts Unrechtes , sagte sie sich . Ich borge mir die Karte ja nur aus. Die Inagiri haben schließlich ein Anrecht darauf zu wissen, wie ihr eigenes Land aussieht. Und solange niemand davon erfährt, wird Rondar keine Schwierigkeiten bekommen.
Sie verstaute den kostbaren Plan sorgfältig in ihrem Gürtel und machte sich eilends auf den Rückweg zu ihrem eigenen Zimmer. Diesmal nahm sie den Weg über den Flur. Von innen ließ sich die Tür problemlos öffnen, da sie den Riegel ähnlich wie den Fensterriegel von Hand zurückdrehen konnte.
Ishira entrollte die Karte auf dem Fußboden und beschwerte sie mit ihrem Kochgeschirr und einem der Stuhlbeine. Sie durfte keine Zeit verlieren. Sie hatte keine Ahnung, wann Rondar von seinem Besuch wiederkehrte und sie musste die Karte rechtzeitig zurückbringen. Aus ihrer Satteltasche holte sie den Stoff, den sie am Vortag gekauft hatte, sowie ein Stück Holzkohle, das sie vorsorglich vom letzten Lagerfeuer aufgehoben hatte. Damit würde sie die Karte auf den Stoff übertragen. Auf diese Weise konnte sie die Zeichnung schnell kopieren und hatte dann Zeit, die Linien an den folgenden Abenden auszusticken, damit sie nicht verwischten.
Mit Feuereifer machte Ishira sich ans Werk. Sie arbeitete so rasch sie konnte, getrieben von der Angst, dass ihr die Zeit davonlief. Dennoch dauerte es für ihr Empfinden quälend lange, die Karte abzuzeichnen. Immer wieder verglich sie die Lage der Linien und Punkte und korrigierte sie. Mit der Holzkohle ließ sich nicht besonders fein zeichnen und sie musste sich auf die wichtigsten Linien beschränken. Mit einem Ohr lauschte sie beständig darauf, ob jemand die Stufen nach oben käme, doch alles, was sie hörte, waren die gedämpften Geräusche aus der Gaststube. Es war bereits dunkel, als sie endlich zufrieden war. Sie hatte den Umriss Inagis gezeichnet, die Berge angedeutet, die Hauptstraßen und Flüsse eingefügt und die Lage der Städte und der größeren Minensiedlungen markiert. Das musste genügen. Sie trug den Stoff zum Fenster und schüttelte den Kohlestaub ab, bevor sie ihn sorgfältig zusammenlegte und in ihrer Satteltasche verbarg. Zuletzt rollte sie die Karte zusammen und steckte sie wieder in ihren Gürtel. Jetzt musste ihr nur noch einmal das Glück hold sein, wenn sie den Plan zurückbrachte.
In Rondars Zimmer angekommen, verriegelte sie als erstes die Tür, bevor sie die Landkarte wieder an ihrem Platz verstaute. Gerade als sie sich aufrichtete, erklangen auf der Treppe Stiefelschritte. Jemand kam nach oben. Gütige Ahnen, doch nicht etwa Rondar? Ishira hastete zum Fenster. Ohne sich durch mehr als einen flüchtigen Blick zu vergewissern, ob jemand in Sichtweite war, kletterte sie hinaus. Mit fliegenden Fingern zog sie das Paneel zu und drehte den Fensterriegel zurück an seinen Platz. Sie hoffte, dass Rondar die Schnitte im Papier nicht auffallen würden. Aber selbst wenn er sie entdeckte, würde er glauben, ein Dieb habe versucht einzudringen. Niemals würde er sie verdächtigen. Sofern er sie nicht auf frischer Tat ertappte.
Die Zimmertür öffnete sich. Ishira huschte davon. Irgendwo hinter ihr fiel ein losgetretener Dachziegel nach unten und zerbrach klirrend im Hof. Sie drehte sich nicht um. Unbeholfen kletterte sie durch ihr Fenster, verlor in ihrer Hast den Halt und landete unsanft auf den harten Dielen. Sie unterdrückte ein Stöhnen, als Schmerz durch ihre linke Hand zuckte.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie hochfahren. »Ishira? Bist du wach? Wie geht es dir?« Rondar! Hoffentlich hatte er nicht gehört, wie sie ins Zimmer gefallen war!
»Besser«, erwiderte sie atemlos. Sie kämpfte darum, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Aber ich habe eben draußen ein merkwürdiges Geräusch gehört.«
»Ich auch und mir war so, als hätte ich draußen auf dem Dach einen Schatten gesehen. Vielleicht war es nur eine Katze, aber bitte vergewissere dich, dass dein Fenster verriegelt ist.«
Ishira unterdrückte ein hysterisches Lachen. Die Katze. »Ja, es ist zu.«
»Dann schlaf gut, Ishira.«
»Gute Nacht, Deiro.« Sie ließ sich auf das Bett sinken und rieb abwesend ihre Hand. Ich schwöre dir, Hiro,
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