INAGI - Kristalladern
unterbrochen nur vom Klopfen des Wirts, der ihr das Essen brachte. Seit dem Abend von Rondars Tod war es das erste Mal, dass sie es gewagt hatte, das Instrument hervorzuholen. Die Angst vor ihren Visionen war zwar nicht verflogen, im Gegenteil. Aber sie verblasste gegenüber der Aussicht, erneut in das Bewusstsein der Amanori einzutauchen. Wenn alles, was sie gesehen hatte, tatsächlich geschehen war, rückte das die Drachen in ein völlig neues Licht, das weit heller strahlte, als die Menschen wahrhaben wollten.
Kiresh Yaren gegenüber hatte sie von ihren Visionen nichts verlauten lassen. Er wurde zu sehr von seiner Rache beherrscht, um auch nur in Erwägung zu ziehen, dass die Amanori nicht die blutdurstigen Ungeheuer waren, die er in ihnen sah. Ihn interessierte nur eines: wie er die Drachen auslöschen konnte. Was immer sie ihm erzählte, würde er lediglich als Vorteil im Kampf werten. Ishira schauderte unwillkürlich, als sie an den berechnenden Ausdruck zurückdachte, der in seine Augen getreten war, nachdem er erfahren hatte, dass sie die Aura der Amanori auf ähnliche Weise spüren konnte wie die Kristallenergie. Sie hatte ihm nicht einmal davon erzählen wollen – von dem Kribbeln ihrer Kopfhaut und dem Gefühl, beobachtet zu werden. Aber er hatte ihre Lüge sofort durchschaut. Sie hatte sich seinem zwingenden Blick nicht widersetzen können und so hatte sie diesen Teil ihres Geheimnisses notgedrungen preisgegeben. Während er ihr zugehört hatte, schien er im Geiste bereits durchspielen, wie er sich ihre Fähigkeit zunutze machen konnte. Würde er anderen davon erzählen? Möglicherweise sogar dem Hemak? Sie wollte den Gohari nicht dabei helfen, die Drachen zu töten. Nicht nur deshalb, weil sie ihr Leben nicht noch mehr von den Eroberern beherrschen lassen wollte, sondern weil sie sich nicht mehr sicher war, dass dafür überhaupt ein Grund bestand. Mussten Menschen und Amanori einander wirklich bekämpfen?
Wenn sie nur irgendwie herausfinden könnte, weshalb die Drachen die Siedlungen angriffen! Hätte Kiresh Yaren den Amanori in den Bergen nicht getötet, hätte sie vielleicht ihre Antworten. Sie würde einem dieser Wesen kaum noch einmal so nahe kommen, dass sich die Gelegenheit ergab, mit ihm zu kommunizieren. Jedenfalls nicht außerhalb eines Kampfes und hätte sie mitten im Gefecht wirklich die Nerven, ihren Geist nach dem der Drachen auszustrecken? Ganz abgesehen davon, dass sie hoffte, niemals wieder in einen Angriff zu geraten. Sicherer war es auf jeden Fall, sich auf ihre Visionen zu beschränken. Nur konnte sie nicht beeinflussen, was diese ihr zeigten. Sie war ja nicht einmal in der Lage, sie bewusst herbeizurufen. Es konnte gut sein, dass sie nie etwas sah, dass sie einer Erklärung näher brachte.
Jemand kam die Treppe nach oben und ging an ihrer Tür vorbei. Am Schritt erkannte Ishira Kiresh Yaren, noch bevor nebenan die Tür klappte. Ungewollt kehrten ihre Gedanken zu ihm zurück. Als sie an den beinahe gehetzten Ausdruck in seinen Augen zurückdachte, wallte erneut Mitleid in ihr auf. Es musste ihm schwergefallen sein, hierher zu kommen. Immerhin hatte er in Hakkon das Mädchen verloren, das er liebte. Die Erinnerungen an sie waren hier zweifellos lebendiger als anderswo.
Er muss Rondars Tochter über alles geliebt haben , schoss es ihr durch den Kopf, wenn er selbst nach so vielen Jahren nicht über ihren Tod hinweggekommen ist. Sie dachte daran, wie elend und verzweifelt ihr selbst zumute gewesen war, als sie nach Kanhiros Auspeitschung tagelang nicht gewusst hatte, ob ihr Freund leben oder sterben würde. Doch selbst wenn das Entsetzliche geschehen wäre, hätte sie ihr Leben weitergelebt. Nicht nur, weil sie Verantwortung für ihren Bruder trug, sondern auch, weil sie sicher war, dass Kanhiro es so gewollt hätte. Aber würde Larika nicht dasselbe wünschen? Konnte ihre Seele überhaupt Frieden finden, wenn ihr Geliebter ihretwegen so sehr litt?
Ishira legte das Rehime beiseite. Sie war müde und ihre Gedanken zu sehr auf Wanderschaft. Heute würde sich ganz sicher keine Vision mehr einstellen. Sie entledigte sich ihres Mihiri und setzte sich auf die Bettkante, um ihre Haare auszukämmen, bevor sie unter die Decke kroch und sich zusammenrollte.
Ein lauter Schrei ließ sie hochfahren. Schreckerstarrt saß sie im Bett und lauschte in die Dunkelheit. Das Herz pochte ihr bis zum Hals. War jemand überfallen worden? Sie hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, aber es
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