INAGI - Kristalladern
dermaßen aus den Fugen geraten können?
* * *
Kanhiro war selten so erleichtert gewesen, den Feierabendgong zu hören, und der Familie seines Freundes ging es mit Sicherheit nicht anders. Tasuke konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten. Er hatte seinem Bruder den Arm um die Schultern gelegt, doch es war unklar, wer wen stützte.
Einige Schritte vor dem Minenausgang wehte Kanhiro von draußen kalte Luft entgegen. Der Winter war dieses Jahr früh und heftig gekommen. Seit Tagen schliefen er und Kenjin unter zwei Decken und trotzdem froren sie noch. Wenn das so weiterging, würden sie ihre Schlafplätze nach unten neben die Herdstelle verlagern müssen.
Als er in sein Kandi schlüpfen wollte, stellte er erschrocken fest, dass sein Gürtel fehlte. Er schüttelte das Kleidungsstück aus und ließ den Blick suchend über den Felsboden gleiten, aber das Stoffband war nicht da. Es musste ihm unterwegs vom Arm gerutscht sein, ohne dass er es bemerkt hatte. Doch dann fiel ihm ein, dass es auch schon von ihrem Kleiderstapel gefallen sein konnte, als er Seiichis Kandi hervor gezogen hatte.
Tasuke sah ihn mit vor Erschöpfung verschleierten Augen an. »Stimmt was nicht?«
»Ich habe meinen Gürtel verloren. Besser, ich gehe ihn suchen.«
»Lass doch, der findet sich morgen«, winkte sein Freund ab, doch Kanhiro wollte kein Risiko eingehen. Der kleine Lederbeutel mit dem Kristallsplitter hing daran. Es konnte unangenehme Konsequenzen haben, wenn die Gohari ihn entdeckten.
»Soll ich dir helfen?« bot Kenjin an, obwohl ihm anzusehen war, dass er nur nach Hause wollte.
Kanhiro schüttelte den Kopf. »Geh ruhig vor und setz das Essen auf. Ich komme schon klar.«
Mühsam bahnte er sich seinen Weg durch den Strom der Bergleute, die ihn verwundert ansahen. Er fragte den einen oder anderen, ob sie seinen Gürtel gefunden hätten, erntete jedoch nichts als Kopfschütteln. Endlich wurde es leerer und er konnte den Boden besser sehen. Hoffentlich fand er das Band, bevor es einer der Aufseher tat! Er traute den Reshiri zu, dass sie wahllos einen der Bergleute herauspickten und so lange auspeitschten, bis sie herausbekamen, wem der Beutel gehörte, falls es sie genug interessierte. Außerdem war es jetzt ohnehin zu spät. Er hatte schon zu viele Leute danach gefragt.
Als er das Abbaugebiet erreichte, kamen ihm nur noch wenige Arbeiter entgegen. Er musste sich beeilen. Hastig suchte er den Boden ab. Tatsächlich – da war das braune Stoffband! Es war verknittert und staubige Fußabdrücke zeichneten sich darauf ab, doch zum Glück war der kleine Beutel nicht abgerissen. Erleichtert hob er den Gürtel auf und schüttelte den Schmutz ab.
»Was machst du noch hier?« ertönte eine misstrauische Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr Kanhiro herum – und blickte direkt in das Gesicht des Anreshir. Bilar oder einer seiner Untergebenen kontrollierte jeden Abend, ob alle Sklaven das Abbaugebiet verlassen hatten. Geistesgegenwärtig hob er den leeren Wasserbehälter an, der über seiner linken Schulter hing. »Ich hatte das hier vergessen, Deiro«, murmelte er entschuldigend. Bilar brummte nur ungeduldig und scheuchte ihn in den Gang. Fraglos hatte er es ebenso eilig, nach Hause zu kommen wie die Inagiri.
Auf dem Weg zum Ausgang zog Kanhiro sein Kandi zurecht und wickelte sich den Gürtel um die Taille. Dennoch fröstelte er, als er hinaus in den Abend trat. Nach der Hitze im Bergwerk machte sich der Temperaturunterschied doppelt bemerkbar. Stirnrunzelnd besah er die Gänsehaut auf seinen nackten Armen. Einen Winter wie diesen hatte er noch nie erlebt. Nicht die beste Voraussetzung für ihr Vorhaben. Er konnte nur hoffen, dass die Kältewelle bald nachließ. Andernfalls würde es schwierig werden, im Freien zu übernachten. Dafür war er nach dem heutigen Erlebnis ein wenig zuversichtlicher, dass sich ihnen bis dahin auch die übrigen Dorfbewohner anschließen würden.
Es war ein eigenartiges Gefühl, das Minengelände als letzter zu verlassen. Die anderen Bergleute waren weit vor ihm, selbst die Nachzügler hatten bereits das Tor passiert. Bilar und zwei der anderen Reshiri waren zurückgeblieben, um die Lagerhäuser abzuschließen. Um Kanhiro herum war es so still, dass er in den Büschen das Rascheln der Nachttiere hören konnte. Als er kurz vor dem Dorf war, erregte ein Lichtschein hinter ihm seine Aufmerksamkeit. Er blickte über die Schulter. Die Ablösung der Torwächter. War es wirklich schon kurz vor der
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