INAGI - Kristalladern
Freude dabei zu empfinden.
»Dann möge das Los entscheiden«, sprach Bilar die rituellen Worte. Er hielt den Deckel fest und schüttelte die Lostrommel. Klappernd wurden die Tafeln durcheinander geworfen. Nach einer scheinbaren Ewigkeit nahm der Anreshir den Deckel ab und griff in das Gefäß. Auf dem Platz wurde es vollkommen still. Nicht einmal ein Vogel sang. Selbst der Wind erstarb – als würde sogar die Natur den Atem anhalten.
Ishira glaubte, vor Spannung zu zerspringen. Nicht Kanhiro oder sein Vater! Bitte nicht Hiro oder Togawa!
Bilars Hand tauchte aus der Trommel auf. Zwischen den Fingern hielt er eine einzelne Holztafel. Er hob sie vor die Augen und las den eingravierten Namen vor. »Kanhiro, Sohn des Togawa.«
Ishiras Herz setzte einen Schlag aus. Das war unmöglich, das konnte einfach nicht sein. Nicht er. Sie musste sich verhört haben.
Als wäre die Zeit stehen geblieben, registrierte sie überdeutlich die Reaktion der anderen. Togawas Hände hatten zu zittern begonnen. Seiichi und Tasuke starrten ihren Freund entsetzt an. Hinter ihnen hatte Ozami die Hand vor den Mund geschlagen, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Auch ihre Eltern waren blass geworden.
Das Blut in Ishiras Adern schien sich in Flusswasser zu verwandeln, als die erbarmungslose Wahrheit in sie einsank. Tränen schossen ihr in die Augen. Jeder Atemzug fiel ihr schwer. Sie umklammerte Kanhiros Hand, als könnte sie ihn auf diese Weise festhalten. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, nein !«
* * *
Kanhiros Mund war plötzlich trocken. Wie betäubt starrte er den Anreshir an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Natürlich war er sich der Tatsache bewusst gewesen, dass es ihn ebenso gut treffen konnte wie jeden anderen, aber er hatte den Gedanken immer weit von sich geschoben. Er versuchte sich damit zu trösten, dass die Wahl allein nicht den Untergang bedeutete und es bei weitem nicht jedes Mal zu einem tödlichen Unfall kam. Doch die Kälte wollte nicht aus seinen Gliedern weichen. Zu tief hatte sich die Erinnerung daran, wie Ishiras Vater Hagare von Shigen getroffen worden war, in sein Gedächtnis eingegraben.
Die Finger seiner Freundin umklammerten seine Hand so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihr Gesicht war gespenstisch bleich. So hatte er sie zuletzt gesehen, als er nach seiner Auspeitschung mehr tot als lebendig im Haus des Heilens gelegen hatte. Es war nicht zuletzt der Schmerz in ihren Augen gewesen, der ihm damals die Kraft gegeben hatte weiterzukämpfen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte er ihr versprochen, immer für sie da zu sein. Und er hatte vor, dieses Versprechen halten, so es irgend in seiner Macht stand. Langsam hob er seine freie Hand und strich Ishira sacht über die Wange. Ihre Haut unter seinen rauen Fingerknöcheln war zart wie ein Blütenblatt. »Kopf hoch, Shira«, versuchte er sie aufzumuntern. »Ich habe nicht vor, da drinnen drauf zu gehen.«
»Das will ich dir auch geraten haben«, kommentierte Tasuke. Die Stimme seines besten Freundes klang eigentümlich rau. »Du schuldest mir noch eine Partie Ujibo .«
Mit vorgetäuschter Zuversicht schlug Kanhiro ihm auf die Schulter. »Die werden wir auch spielen. Ich lasse mir doch keine Gelegenheit entgehen, dich zu schlagen!«
Er drehte sich wieder zu Ishira um. Sie kam ihm verloren vor, wie sie dort stand, mit bebenden Lippen, die linke Hand an die Brust gepresst, als wäre ihr kalt. »Ich werde Bilar bitten, mir einen anderen Träger zuzuteilen«, flüsterte er ihr zu. Obwohl er sich nichts mehr wünschte, als dass sie ihn trotz allem begleitete, durfte er es ihr unter diesen Umständen nicht zumuten. »Ich – «
Ihre Finger legten sich auf seine Lippen und hinderten ihn am Weitersprechen. »Nichts wirst du!« sagte sie überraschend bestimmt. »Natürlich begleite ich dich.«
Er schaffte es irgendwie zu lächeln. »Danke. Das bedeutet mir viel, wirklich.«
Sein Vater hatte bis jetzt geschwiegen. Als ihre Blicke sich trafen, trat Togawa einen Schritt vor. Seine Miene war gefasst und entschlossen. Im selben Moment erkannte Kanhiro, was sein Vater vorhatte, doch das würde er niemals erlauben. Auf keinen Fall konnte er seinem Vater sein eigenes Schicksal aufbürden. Bevor Togawa den Mund öffnen konnte, schüttelte er stumm den Kopf und umarmte ihn kurz. Er wusste nicht recht, wie er sich verabschieden sollte. »So die Götter wollen, sehen wir uns heute Abend, Koru«, sagte er schließlich.
Sein Vater legte ihm eine Hand auf die
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