INAGI - Kristalladern
geweint haben. Ihr Mann hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. Kanhiro und sein Vater murmelten eine Beileidsbekundung, die die junge Frau mit einem hölzernen Nicken zur Kenntnis nahm. Ishira blickte scheu zu Boden. Sie hatte Kioge nicht besonders gut gekannt, so wie sie eigentlich kaum jemanden im Dorf wirklich kannte, aber sie konnte sich vorstellen, wie schwer es für ihre Tochter sein musste. Die Beiden hatten sich ziemlich nahegestanden.
»Wisst ihr, ob es außer Kioge noch weitere Tote gibt?« fragte sie Kanhiro beim Weitergehen leise.
»Ich glaube, nicht«, erwiderte ihr Freund. »Mehrere sind wie Kenjin in einen Drachenblitz geraten, aber soweit wir bis jetzt gehört haben, wurde ansonsten kaum jemand ernsthaft verletzt.«
Als sie das Dorf verließen, entdeckte Ishira zwei Kireshi, die in der Nähe des Forts standen und etwas bewachten, das zwischen ihnen aus dem Gras aufragte. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es ein Amanori war, und einen weiteren, um zu begreifen, dass er tot war. Der Anblick des geschundenen Kadavers, unwiderlegbarer Beweis dafür, dass selbst die Amanori sterbliche Wesen waren, hatte etwas Unwirkliches an sich. Ishira fragte sich, was die Gohari mit den Überresten des Drachen vorhatten. Wahrscheinlich würden sie seine Schuppen dazu verwenden, um ihre Schilde und Rüstungen zu verstärken. Den Rest wollte sie vielleicht lieber gar nicht wissen.
Unwillkürlich verlangsamte sie ihren Gang, um den Amanori aus der Nähe zu betrachten. Er maß an die sieben Schritte. Eine einzige krallenbewehrte Zehe war so lang wie Ishiras ganze Hand. Sein Hals mit der fächerförmigen Krause war nach hinten verdreht, der schmale, gehörnte Kopf lag halb auf dem Körper. Das Maul stand weit offen und ließ die fingerlangen, messerspitzen Zähne sehen. Die Schuppen des Drachen waren abwechselnd schwarz und von einem tiefen Blaugrün, das an die großen Libellen erinnerte, die im Sommer über den Fluss schwirrten. Nur an Bauch und Hals schimmerten sie hell wie Flusssand. Einer der beiden fledermausartigen Flügel war zerfetzt, die Knochen staken in die Luft wie Grabpfeiler. Unter dem Amanori hatte sich eine dunkle Blutlache gebildet, die über Nacht in den Boden gesickert war. Sein Leib war mit zahllosen Schwertwunden übersät. Die Kireshi schienen ihre ganze Wut an ihm ausgelassen zu haben. Es stimmte Ishira unerwartet traurig, das mächtige Wesen so entstellt auf dem Boden liegen zu sehen. Im Tod war es all seiner Erhabenheit und Anmut beraubt. Die schimmernde Aura war erloschen und seine Schuppen hatten jeglichen Glanz verloren.
»Du hast doch nicht etwa Mitleid mit dem Vieh?« fragte einer der beiden Wächter abschätzig, als er ihren Blick bemerkte.
Ishira zuckte zusammen. Empfand sie wirklich Mitleid? Oder war sie einfach nur fassungslos, dass die Gohari es geschafft hatten, ein Wesen zu töten, von dem sie geglaubt und im Stillen sogar gehofft hatte, dass es stärker wäre als die Eroberer? »Nein, nein natürlich nicht«, murmelte sie hastig und war froh, als ihr Freund sie weiterzog.
* * *
Als sie sich der Brücke näherten, spürte Kanhiro Ishiras Widerstreben weiterzugehen. Auch er selbst ertappte sich dabei, das Unvermeidliche hinauszögern zu wollen, als könnte er der Lotterie dadurch doch noch irgendwie entgehen. Er trat ans regenfeuchte Geländer und blickte auf den Fluss, dessen Fluten gurgelnd um die Holzpfeiler der Brücke strudelten. Zumindest konnten sie hier warten, bis sein Vater kam, der am Tor von einem Nachbarn in ein Gespräch verwickelt worden war.
Vielleicht war es nur die Aussicht auf die bevorstehende Lotterie, doch auf einmal musste Kanhiro wieder daran denken, wie der Ashikiri im letzten Jahr ungefähr um diese Zeit die alte Brücke zerstört hatte. Die meiste Zeit des Jahres floss er ruhig und harmlos dahin, aber nach einem heftigen Unwetter hatte er sich schäumend auf die Brückenpfeiler gestürzt wie eine Horde Wasserdämonen. Die Baumstämme waren geknickt, als wären sie nicht mehr als dürre Äste, und die ganze Konstruktion war innerhalb weniger Augenblicke in die tobenden Wassermassen gestürzt. Seither hatte Kanhiro sich schon mehr als einmal gefragt, ob die Inagiri sich durch einen Überraschungsangriff in ähnlicher Weise vom Joch der Sklaverei befreien und die Herrschaft der Gohari stürzen könnten.
Er dachte nicht erst seit letztem Jahr darüber nach, sich gegen die Eroberer aufzulehnen. Das erste Mal hatte er sich geschworen,
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