INAGI - Kristalladern
verfüllt, um die Stabilität zu erhalten. Aus demselben Grund wurde stets ein Stück der Kristallader als tragender Pfeiler stehen gelassen. Zusätzlich wurden die Gänge an einigen Stellen durch dicke Holzbalken abgestützt. Inzwischen reichten die Stollen einige hundert Schritte weit in den Berg. Zum Glück war das die Kristallader umgebende Gestein massiv. Das erschwerte zwar die Arbeit der Hauer, senkte jedoch die Gefahr eines Einsturzes. Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kam es immer wieder zu tödlichen Unfällen, die nichts mit Shigen zu tun hatten.
Die beiden Parallelstollen waren so breit, dass sie zwei Hauern nebeneinander bequem Platz boten, und etwas über mannshoch – nach inagischem Maßstab gerechnet. Bilar, der Kanhiro um einen halben Kopf überragte, musste sich gelegentlich ducken, um sich an der unebenen Decke nicht zu stoßen. Die Bergleute benutzten gewöhnlich den linken der beiden Gänge, da im rechten die Schienen für die Loren verlegt waren.
Es wurde beständig heller und wärmer. Bald darauf tat sich auf der rechten Seite das Abbaugebiet auf. Der Strom der Bergleute ergoss sich in die große Kammer, aus der ihnen die Wärme der Kristallader entgegenschlug. Sie maß gute acht Schritte in der Breite sowie fünf in der Höhe und tauchte die ganze Umgebung in beinahe taghelles Licht. Am Kristall waren Leitern angestellt, damit die Hauer auch die oberen Bereiche erklimmen konnten.
Als erstes zogen die Männer ihre Kandi aus. Dann stellten die Arbeiter ihr Essen entlang der Wände ab und ließen die schweren Wasserbehälter zu Boden gleiten. Obwohl die Bambusflaschen einiges an Wasser fassten, reichte es kaum über den Tag. Die Hitze trocknete den Körper innerhalb kurzer Zeit aus. Unter diesen Bedingungen an die zehn Stunden beinahe ohne Unterlass zu arbeiten, verlangte den Bergleuten alles ab und es kam nicht selten vor, dass einer der Jungen oder auch der älteren Hauer vor Erschöpfung oder Durst zusammenbrach. Und doch war es nichts gegen das, was Kanhiro erwartete.
Kapitel IV – Geheimnisvolles Wispern
ES WAR EIN eigenartiges Gefühl, nach mehr als zehn Monden zum ersten Mal wieder die Mine zu betreten. Im Gehen ließ Ishira ihre Finger über die rauen Felswände gleiten. Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Der Geruch nach Felsen und Steinstaub. Die trockene Wärme. Das allgegenwärtige Leuchten des Kristalls. Hier unten schien die Zeit stillzustehen, außer dass sich die Stollen von Jahr zu Jahr tiefer in den Berg gruben. Selbst an ihrem Unbehagen angesichts der Tonnen von Stein über ihrem Kopf hatte sich nichts geändert. Nur gesellte sich diesmal nackte Angst hinzu. Angst, dass Kanhiro ihr ebenso entrissen werden könnte wie ihr Vater. Sie wusste nicht, ob sie einen solchen Verlust verwinden würde. Ein Leben ohne ihren Freund konnte sie sich ebenso wenig vorstellen wie ein Leben ohne Kenjin.
Kanhiro und sie waren aufgewachsen wie Geschwister und einander ebenso zugetan. Schon in ihrer Kindheit hatte ihr Freund die Rolle des älteren Bruders übernommen und sie beschützt, wann immer sie seines Schutzes bedurft oder er geglaubt hatte, dass sein Eingreifen vonnöten war. Wohl ein Dutzend Mal und mehr war er mit blauen Flecken nach Hause gekommen, weil er sie gegen die anderen Kinder verteidigt oder sich ihretwegen geprügelt hatte. Nach dem Tod ihrer Eltern hatten er und sein Vater ihr und Kenjin Halt und Zuversicht gegeben. Die Beiden hatten ihnen unzählige Male beigestanden, wenn sie etwas nicht allein bewerkstelligen konnten. An Kanhiros Schulter hatte Ishira sich ausgeweint, wenn sie die Kräfte verließen. Sie konnte mit ihm über alles reden und sich voll und ganz auf ihn verlassen. Er war wie ein stetig brennendes Lagerfeuer, in dessen warmem Schein sie sich behaglich und geborgen fühlte.
Sie schluckte hart. Sie hatte das Gefühl, die Stollenwände würden immer enger zusammenrücken und sie erdrücken. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Brust und ihre Haut kribbelte vor Unruhe.
»Alles in Ordnung?« wollte ihr Freund wissen.
Ishira fuhr zusammen. »Ja«, log sie. Das fehlte gerade noch, dass er sich auch noch um sie Gedanken machte!
Kanhiros Finger fanden ihre. »Ich weiß, wie schwer es dir fällt, unter Tage zu sein«, sagte er weich. »Umso mehr weiß ich zu schätzen, dass du das für mich noch einmal auf dich nimmst.«
Ihr Blick wanderte zu der kleinen Narbe an seinem Kinn, wo ihn in seinem ersten Zwölft als Hauer ein
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