INAGI - Kristalladern
Schulter. »Mögen die Ahnen dich beschützen, mein Sohn.« Nur die gepresste Stimme verriet seinen inneren Aufruhr.
Kanhiro straffte sich. »Wir sollten den Anreshir nicht länger hinhalten.«
Mit festen Schritten ging er hinüber zu Bilar, der vor dem Lagerhaus auf ihn wartete. Ishira hatte seine Hand losgelassen und folgte ihm dichtauf. Der Oberaufseher hatte sich bereits den Beutel mit den Sprengsätzen um die Schulter geschlungen. Das Trennen der Kristallader überwachte er stets persönlich und er teilte den Hauern auch eigenhändig die Sprengrollen zu. Damit wir ja nicht auf dumme Gedanken kommen und womöglich etwas anderes als die Ader sprengen , dachte Kanhiro sarkastisch.
Bilar musterte Ishira stirnrunzelnd. »Bist du nicht eine von den Sortiererinnen?«
Kanhiro war nicht besonders überrascht, dass selbst der Anreshir sich an sie erinnerte. Ishira war nicht gerade eine unauffällige Erscheinung. »Das stimmt«, erwiderte er rasch. »Aber mein Träger, ihr Bruder, wurde gestern bei dem Angriff verletzt und sie hat sich erboten, heute seine Stelle einzunehmen, wenn Ihr damit einverstanden seid, Deiro .«
»Soll mir recht sein.« Ohne weiteres Aufheben ging der Anreshir voran zum Werkzeuglager, vor dem sich bereits die übliche Schlange gebildet hatte. Die Bergleute durften ihre Arbeitsgeräte nicht mit nach Hause nehmen, sondern mussten sie jeden Morgen im Lagerhaus abholen und am Abend wieder dort abgeben. Auf diese Weise sollte es den Sklaven erschwert werden, sich zu bewaffnen. Die Ausgabe wurde von einem Aufseher kontrolliert, der hinter jeden Namen einen Haken setzte. Dadurch wusste er zugleich, ob alle Bergleute zur Arbeit erschienen waren. Die Rückgabe der Werkzeuge wurde auf dieselbe Art vermerkt.
Als Kanhiro hinter Bilar an der Schlange vorbeiging, erntete er von den Dorfbewohnern mitleidige Blicke, doch er sah in den Gesichtern auch Erleichterung darüber, dass es nicht sie selbst oder ihre Angehörigen getroffen hatte. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Auch er selbst war ja jedes Mal froh gewesen, wenn das Los nicht auf ihn oder seinen Vater gefallen war.
Statt der üblichen Hacke händigte der Reshir, der die Werkzeuge verteilte, ihm heute einen Meißel und einen großen Hammer aus. Damit würde er die Löcher für die Sprengladungen in den Kristall treiben. Als er sich umwandte, sah er, dass Ishira inzwischen einen Tragekorb erhalten hatte. Sie war immer noch blass und in Kanhiro meldete sich erneut das schlechte Gewissen, weil er zuließ, dass sie vielleicht sehen musste, was er damals gesehen hatte. Dennoch war er froh, dass sie bei ihm war. Falls die Götter entschieden, dass seine Zeit abgelaufen war, würde er seine letzten Stunden wenigstens in Gesellschaft des Mädchens verbringen, das er liebte.
Vor dem nebenstehenden Lagerhaus klatschte ein anderer Aufseher mit gelangweilter Miene Asagibrei in die Holzschalen, die die Bergleute ihm hinhielten. Anständig gekochter Busho ließ normalerweise noch die einzelnen Körner erkennen, doch dieser Brei war zu einer zähen Pampe zerkocht, die einem nach wenigen Löffeln den Magen zuklebte. Außerdem war er vollkommen ungewürzt. Wahrscheinlich würden sogar die goharischen Hunde diesen Fraß verschmähen. Aber zumindest machte er satt.
Aus dem Mineneingang drang der vertraute Schimmer des Kristalls, der mit der zunehmenden Helligkeit draußen verblasste. Doch sobald sie im Innern waren, trat das Leuchten deutlicher zutage. Zuerst war es nur der schwache Schein der Kristallsplitter, die in regelmäßigen Abständen in Eisenhalterungen in der Wand steckten und jede andere Lampe überflüssig machten. Je näher sie der eigentlichen Kristallader kamen, desto heller wurde es. Im selben Maße stieg allerdings auch die Temperatur.
Kanhiro und Ishira folgten Bilar in Richtung Abbaugebiet. Um die Gefahr, die von Shigen ausging, so gering wie möglich zu halten, hatten die Gohari eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Strategie ausgetüftelt. Anstatt die Kristalladern direkt abzubauen, trieben die Bergleute zu beiden Seiten parallele Stollen in den Fels. Dabei kam ihnen zugute, dass die Adern mehr oder weniger geradlinig verliefen. Zweimal im Jahr wurde eine Querverbindung geschlagen und so ein Stück von der restlichen Ader abgetrennt. Dieses Teilstück konnte dann gefahrlos abgebaut werden, da es von den Energieausbrüchen nicht mehr betroffen war. Später wurde der entstandene Hohlraum mit Steinen und Geröll aus den Seitenstollen
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