INAGI - Kristalladern
Ozami.
»Das wünschen wir uns wohl alle«, seufzte Kanhiro.
»Ich möchte wirklich wissen, was, bei allen Göttern, die Gohari getan haben, um die Drachen dermaßen wild zu machen«, brummte Tasuke. »Na, wenigstens leiden sie unter den Angriffen genauso wie wir. Im Grunde sind sie doch vollkommen hilflos.«
»Nicht ganz«, widersprach sein Bruder. »Gestern haben sie einen der Amanori abgeschossen.«
»Wirklich kaum zu glauben«, spottete Tasuke. »Wollen wir hoffen, dass die Drachen ihre Lektion gelernt haben und uns eine Weile in Ruhe lassen.«
* * *
Ishiras Blick glitt über die Menge, die sich auf dem Platz vor der Mine versammelt hatte. Hinter ihnen ragte schwarz und drohend der Berg auf. Die in seinem Schatten bewegungslos dastehenden Inagiri mit ihren erstarrten Mienen erweckten bei flüchtiger Betrachtung eher den Anschein steinerner Abbilder als lebendiger Menschen. Alle Augen waren auf das Lagerhaus gerichtet, aus dem in wenigen Augenblicken der Anreshir heraustreten würde. Es war das mittlere in einer Reihe niedriger Häuser, die ein Stück vom Mineneingang entfernt an die Felsen gebaut waren. Rechts davon befanden sich die Schreibstuben und Aufenthaltsräume der Reshiri und Kireshi, links das zweite Lagerhaus, in dem das Werkzeug verwahrt wurde.
Niemand sprach. Gelegentliches Scharren von Füßen und hin und wieder ein tiefer, angespannter Atemzug oder unterdrücktes Husten waren die einzigen Geräusche. Wind strich über Ishiras Wange – ein kühler Hauch, der sie frösteln ließ und an den Alptraum der vergangenen Nacht erinnerte. Unwillkürlich rückte sie enger an Kanhiro heran. Seine Augen hingen wie die aller anderen an der Tür des Lagerhauses, doch auf ihre Berührung hin drehte er den Kopf und brachte ein kaum merkliches Lächeln zustande. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Seine Finger waren beruhigend warm. Sie schloss die Augen. Es war nur ein dummer Traum, nichts weiter , sagte sie sich. Du hast solchen Unsinn doch schon öfter geträumt. Lass dich nicht von deiner Angst beherrschen!
Ein Laut wie ein vielstimmiges Stöhnen lief durch die Menge. Ishiras Augen flogen wieder auf. Im Türrahmen war Bilar aufgetaucht, in den Händen ein großes zylinderförmiges Gefäß aus dunklem Holz. Es enthielt, in kleine Holztafeln geritzt, die Namen aller Hauer, die in diesem Bergwerk arbeiteten. Eine solche Lostrommel gab es für beide Minen Soshimes und sicherlich auch für jede andere auf der Insel. Sie wurden in einem massiven Schrank im Lagerhaus verwahrt, zu dem nur der Anreshir den Schlüssel besaß. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die Lotterie nicht verfälscht wurde, indem jemand einfach eine Tafel aus der Trommel entfernte. Natürlich konnte immer noch der Oberaufseher selbst die Ziehung manipulieren. Die Wahrscheinlichkeit war gering, aber Togawa hatte einmal erzählt, dass sich in seiner Jugend der damalige Anreshir durch die Aussicht auf eine Nacht mit der schönen Frau eines Hauers hatte bestechen lassen und deshalb seines Amtes enthoben worden war.
Wie zuvor Ishira ließ Bilar seinen Blick langsam über die versammelten Inagiri gleiten. Er räusperte sich. »Hört mir zu, Bergleute!« Seine Stimme schallte über den Platz und brach sich an den umliegenden Felsen. »Heute, zu Beginn des vierten Monds, wird erneut ein Hauer ausgewählt, um die Kristallader zu trennen. Derjenige von euch, dem diese Aufgabe zufällt, versichert sich der Dankbarkeit des Hemaks und erhält als Beweis dieser Dankbarkeit für die gesamte Zeit, in der er an der Kristallader arbeitet, das Doppelte seines üblichen Lohns. Gibt es unter euch einen, der sich freiwillig meldet?«
Schweigen beantwortete die Frage, die der Anreshir aus Tradition jedes Mal stellte. Im Grunde eine rhetorische Frage, doch es war wohl schon vorgekommen, dass sich tatsächlich ein Freiwilliger gefunden hatte, der aus welchen Gründen auch immer das Risiko, sein Leben zu verlieren, auf sich genommen hatte. Ishira bildete sich ein, einen resignierten Ausdruck über Bilars Gesicht huschen zu sehen, bevor seine gleichmütige Miene zurückkehrte. Flüchtig fragte sie sich, was für ein Gefühl das sein mochte, vor die Aufgabe gestellt zu werden, einen Menschen in den möglichen Tod zu schicken. Sie beneidete den Oberaufseher nicht darum, obwohl sie bezweifelte, dass der Gohari sich über das Leben der Sklaven allzu viele Gedanken machte. Doch zumindest schien er im Gegensatz zu seinem Vorgänger keine
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