INAGI - Kristalladern
dass er sein Leben nicht in den Minen beschließen würde, als seine Mutter gestorben war. Doch damals war es eher der verzweifelte Versuch eines Kindes gewesen, mit der Situation fertig zu werden. Dennoch hatte sich der Vorsatz in einem Winkel seines Kopfes festgesetzt und als er im vorletzten Jahr ausgepeitscht worden war, weil er es gewagt hatte, gegen die Willkür des damaligen Anreshir einzuschreiten, war sein Hass auf die Gohari stärker denn je aufgeflammt. Allerdings wusste er genau wie jeder andere in Soshime, dass ein Kampf gegen die Eroberer ungefähr so aussichtsreich war wie der Versuch, sich gegen Shigen zu schützen. Selbst wenn sie sich zum Aufstand entschließen würden, waren sie viel zu wenige, um gegen die Gohari zu bestehen. Ohne Unterstützung aus anderen Siedlungen würden sie nicht einmal einen Tag gegen die Kireshi durchhalten. Da konnte er gleich auf ein Wunder hoffen.
Seine Freundin war neben ihn getreten und hatte ihre Ellbogen auf die Holzbrüstung gestützt. Ihr Arm war um einige Schattierungen heller als seiner. Abgelenkt betrachtete Kanhiro ihr Gesicht, in dem inagische und goharische Merkmale seinem Empfinden nach eine höchst reizvolle Verbindung eingegangen waren. Die hohen Wangenknochen und die zierliche Nase waren eindeutig inagischen Ursprungs, ebenso der leicht schräge Schnitt ihrer mandelförmigen, von langen Wimpern verschatteten Augen. Die Farbe ihrer Iris – ein klares Blau, das an einen abendlichen Winterhimmel erinnerte – war hingegen ihrer goharischen Abstammung geschuldet. Sie selbst haderte mit der Farbe, doch Kanhiro hätte ihr jederzeit versichert, dass sie die schönsten Augen der Welt besaß. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, weil sie ihn heute in die Mine begleiten würde. Auch wenn sie kaum Zeit füreinander haben würden, war er glücklich über jeden Augenblick, den er mit ihr zusammen verbringen konnte.
Als hätte Ishira seinen Blick gespürt, wandte sie den Kopf. Sie blinzelte irritiert. »Worüber lächelst du?«
Er griff nach einer ihrer glänzenden Haarsträhnen, die über ihrer linken Schulter lagen, und rollte sie um seinen Finger. »Darüber, dass ich mit dir hier sein kann.«
Die Holzbohlen unter seinen Füßen vibrierten, als eine Gruppe von Bergleuten die Brücke betrat.
»Schaut euch die Beiden an!« rief Seiichis helle Jungenstimme mit einem Lachen, das eine Spur zu laut klang. »Unzertrennlich wie Uboshi !«
Ishira fuhr zusammen und trat hastig einen Schritt zurück, so dass Kanhiro ihre Haare loslassen musste. Ihre Wangen färbten sich rosig und sie wandte verlegen den Blick ab. Die langohrigen Uboshi galten bei den Inagiri als Symbol der Liebe, weil Männchen und Weibchen stets so dicht beisammen saßen, dass sie aus der Entfernung wie ein einziges Tier aussahen. Wenn einer der beiden Partner starb, lebte angeblich auch der andere nicht mehr lange. Kanhiro fand den Vergleich gar nicht so unpassend. Ginge es nach ihm, würde er jede Stunde des Tages – und der Nacht – mit Ishira verbringen.
Als er sich umdrehte, sah er seinen Freund Tasuke vielsagend grinsen. Ozami hatte die Lippen zusammengepresst, bemühte sich jedoch um ein Lächeln, als sein Blick ihren traf. Wahrscheinlich hatte sie sich auf dem Weg mal wieder mit ihren Brüdern gestritten.
Unvermittelt wurde Seiichi ernst. »Wo ist Kenjin?« wollte er wissen. »Ihm ist doch gestern nichts passiert?«
»Ein Drachenblitz hat ihn getroffen, aber es geht ihm schon wieder ganz gut«, antwortete Ishira. »Wenn du möchtest, komm doch heute Abend kurz vorbei! Darüber freut er sich bestimmt.«
»Klar, mach‘ ich!« Das letzte Wort ging halb in Husten unter.
Tasuke sah seinen jüngeren Bruder prüfend an. »Hast du dich erkältet, Sei?«
Seiichi räusperte sich ein paar Mal. »Scheint so.«
»Du hättest dich beim Angeln wärmer anziehen sollen«, tadelte ihn seine Schwester.
»Ja, ja, schon gut«, gab Seiichi ungnädig zurück. »Ich werd’s mir merken.«
»Hast du das mit Kioge mitbekommen?« lenkte Tasuke das Gespräch zurück auf den Angriff.
Kanhiro nickte. »Schrecklich. Ihre Familie war völlig aufgelöst.«
»Kann ich mir vorstellen«, erwiderte sein Freund. »Trotzdem sind wir diesmal glimpflicher davongekommen als beim letzten Mal. Was die Gohari von sich nicht sagen können. Unter den Kireshi soll es mindestens zwei Tote gegeben haben.«
»Ich wünschte, die Amanori würden endlich wieder dahin verschwinden, wo sie hergekommen sind«, murmelte
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