INAGI - Kristalladern
nicht so leicht, gegen die plötzliche Niedergeschlagenheit anzukämpfen. Es war nicht nur die lange Abwesenheit von zu Hause. Sie hatte auch Angst. Die Bergleute in den anderen Siedlungen würden sie kaum herzlicher empfangen als die Bewohner Soshimes – und diesmal wäre kein Kanhiro da, um ihr den Rücken zu stärken.
Immer wieder begegneten ihnen unterwegs andere Reisende – berittene Kireshi oder Bauern, die ihre behäbigen Karren umgehend an den Rand der Straße lenkten, um dem Bakouran Platz zu machen, und sich ehrerbietig verneigten. Einmal überholte sie ein eleganter geschlossener Wagen, der von vier schwarzen Pferden gezogen wurde. Sicherlich ein hoch gestellter Gohari. Die beiden Reiter, die den Wagen begleiteten, tauschten mit Kiresh Rondar höfliche Grüße aus. Ishira ritt nach wie vor hinter ihrem Begleiter auf Bokan, denn es sah nicht so aus, als würde Lesha sie in nächster Zeit akzeptieren. Inzwischen musste sie sich kaum noch an dem Bakouran festhalten, doch sie fühlte sich so steif und zerschlagen wie lange nicht mehr. Ihr Körper schien ein einziger Schmerz zu sein. So schlimm war es ihr nur noch in ihrer ersten Zeit als Trägerin ergangen. Damals hatte sie sich auch gefragt, wie sie den nächsten Tag durchstehen sollte, aber irgendwie hatte sie es geschafft und nach einer Weile hatte ihr Körper sich an die Belastung gewöhnt. Sie hoffte, dass es mit dem Reiten dasselbe sein würde.
Seit sie nicht mehr ihre gesamte Kraft und Konzentration darauf verwenden musste, sich im Sattel zu halten, schenkte Ishira der Gegend um sie herum mehr Beachtung. Sobald sie das Tal, in dem Soshime lag, verlassen hatten, waren die Äcker von einer mit niedrigem Buschwerk bestandenen Hügellandschaft abgelöst worden. Als sie tiefer in die Berge kamen, wurden die Hänge steiler und waldreicher. Anders als zu Hause waren die Bantans und Ahornbäume noch vollkommen kahl. Der eine oder andere Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg durch die Zweige und tupfte helle Flecken auf den Waldboden. Gelegentlich öffneten sich die Baumreihen zu kleinen Lichtungen, auf denen sich langstielige Blumen mit üppigen violetten Blüten dem Licht entgegen reckten. Ihr süßer, intensiver Duft vermischte sich mit dem Geruch nach feuchter Erde. Über das Getrappel der Pferdehufe erhob sich das Gezwitscher zahlloser Vögel, von denen Ishira viele noch nie zuvor gehört oder gesehen hatte.
Kiresh Rondar würdigte die Landschaft kaum eines Blickes, aber natürlich war sie für ihn weder neu noch aufregend. Als Angehöriger des herrschenden Volkes konnte er auf der Insel bestimmt umher reisen, wie es ihm beliebte. Ishira fragte sich, wie sein Leben ausgesehen hatte, bevor er ihr Begleiter wurde. Bisher wusste sie über ihn nicht mehr, als Bilar bei der Vorstellung erwähnt hatte. Er war nicht besonders gesprächig, wenn es um ihn selbst ging. Allerdings hatte sie nicht den Eindruck, dass ihm seine neue Aufgabe missfiel. Sie wunderte sich darüber, denn man sollte meinen, dass es ein Gohari in seiner Position als unter seiner Würde ansähe, eine Sklavin zu begleiten. Zu gern hätte Ishira gewusst, warum der Hemak die Aufgabe, auf sie aufzupassen, ausgerechnet ihm übertragen hatte, aber sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen.
Am frühen Nachmittag des zweiten Tages erreichten sie ein langgestrecktes Tal. Vor einer Weile hatten sie den Wald hinter sich gelassen. Der Weg führte nun wieder an einem Wasserlauf entlang. Das abwechselnd in Weiden und bewirtschaftete Felder aufgeteilte Ufer erinnerte an ein Ujibobrett. Mehrere goharische Bauern waren dabei, neue Asagipflanzen zu setzen. Sie trugen locker geschnittene helle Hemden und dunkle Hosen, die sie bis zu den Knien aufgekrempelt hatten. Ihre Gesichter wurden von breitkrempigen, aus Binsen geflochtenen Hüten verborgen. Fetzen eines fröhlichen Liedes wehten zur Ishira herüber.
Auf der Straße kamen ihnen zwei schwere, von je vier zotteligen Umasus gezogene Fuhrwerke entgegen, die Ishira augenblicklich als die Wagen erkannte, mit denen die Kristalle befördert wurden. Ihr Zielort konnte nicht mehr weit sein. Tatsächlich tauchten kurz darauf die Palisaden Oshues auf. Das Dorf war kleiner als Soshime und die Häuser drängten sich nicht am Berghang, sondern lagen ringförmig in der Talsohle. Doch davon abgesehen wirkte alles erstaunlich vertraut. Die verwitterten, windschiefen Holzhäuser, die hölzerne Umfriedung, die Wächter vor dem Tor, das goharische Fort nebenan.
Als ihr
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