Incarceron
erwartete sie schon.
Als sie um eine Ecke bei einem Springbrunnen mit steinernen Schwänen bog, schoss plötzlich Jareds Hand aus einem Versteck und packte sie am Arm. Sie wurde durch einen Bogendurchgang gezerrt und wartete atemlos, bis Jared die Eichentür beinahe ganz geschlossen hatte und nur noch ein Auge an den Spalt drückte.
Eine Gestalt hastete vorbei. Claudia glaubte, den Sekretär ihres Vaters erkannt zu haben.
»Medlicote. Verfolgt er mich?«
Jared legte einen Finger auf seine Lippen. Er sah blasser und hagerer als gewöhnlich aus, und eine nervöse Energie ging von ihm aus, die Claudia Sorgen bereitete. Er führte sie einige Steinstufen hinunter und über einen vernachlässigten Innenhof. Dann bog er in eine Gasse ein, die von den leuchtenden Blüten eines Goldregenbusches überhangen wurde. Auf halbem Wege blieb er stehen und flüsterte: »Es gibt hier einen Turm, der nur der Zierde dient. Diesen nutze ich im Augenblick. Mein eigenes Zimmer ist von oben bis unten verwanzt.«
Der Mond hing groà und schwer über dem Palast, dessen Fassade noch immer von den Jahren des Zorns gezeichnet war. Der silberne Schein erhellte den Obstgarten und die Gewächshäuser und spiegelte sich in den Fenstern, die aufgrund der Hitze offen standen und deren Glasscheiben in der Sonne wie Diamanten aufblitzten. Aus einem Raum wehte Musik zu ihnen heraus, Stimmen, Gelächter und das Klappern von Tellern. Jareds dunkle Gestalt schlüpfte zwischen zwei niedrigen Säulen hindurch, auf denen Steinbären tanzten, und durch Büsche, die nach Lavendel und Zitronenmelisse dufteten. Er steuerte auf einen kleinen Bau zu, der in der entlegensten und ungepflegtesten Ecke des ummauerten Gartens in den Wall eingelassen worden war. Claudia erahnte ein Türmchen und eine verfallene Brüstung, die mit Efeu bewachsen war.
Jared öffnete eine Tür und winkte Claudia hindurch.
Im Innern des Gemäuers war es stockfinster und roch nach feuchter Erde. Licht flackerte über Claudia auf; Jared hatte eine kleine Fackel in der Hand. Er deutete damit auf eine weitere Tür. »Schnell!«
Die Tür war im Laufe der Jahre schimmlig geworden und das Holz so weich, dass es schon anfing zu bröckeln. Durch die Fenster war Efeu in den dämmrigen Raum hereingewuchert. Claudia
sah sich neugierig um, während Jared ein paar Lampen entzündete. »Genau wie zu Hause.« Ihr Lehrer hatte sein Elektronenmikroskop auf den wackeligen Tisch gestellt und einige seiner Kisten voller Instrumente und Bücher ausgepackt.
Er drehte sich um. Im Kerzenschein sah sein Gesicht eingefallen aus.
»Claudia, das hier musst du dir anschauen. Das verändert alles. Alles! «
Der gequälte Ton in seiner Stimme erfüllte sie mit Sorge. »Beruhige dich«, sagte sie leise. »Geht es dir gut?«
»Gut genug jedenfalls.« Er beugte sich über das Mikroskop, und seine langen Finger stellten es geschickt ein. Dann trat er zurück. »Du erinnerst dich doch an das Stück Metall, das ich aus dem Arbeitszimmer mitgenommen habe? Dann schau dir mal das hier an.«
Sie war etwas irritiert, aber dann hielt sie ihr Auge über die Linse. Das Bild war verschwommen, und sie musste die Einstellung ein wenig nachregeln. Und dann wurde sie ganz still und stand so starr da, dass Jared wusste: Sie hatte es auch gesehen und in diesem Augenblick, wie er nur kurz zuvor, alles verstanden.
Er ging ein Stück weg und lieà sich müde zwischen dem Efeu und den Nesseln auf den Boden sinken. Seinen Umhang hatte er um sich geschlungen, der Saum lag ausgebreitet auf dem schmutzigen Boden um ihn herum. Claudias und seine Blicke fanden sich.
Â
Es war die Wand am Ende der Welt.
Wenn Sapphique an ihr wirklich von ganz oben bis nach unten gefallen war, dann musste es ihn Jahre gekostet haben. Als Finn den Blick hob, spürte er, wie sich der Wind an dem Widerstand, den die Wand bot, brach und zu einer Wirbelströmung
wurde, die sich ihnen donnernd entgegenschob. Schutt und Geröll aus dem Herzen Incarcerons wurden nach oben geblasen und in einem endlosen Mahlstrom herumgewirbelt. Was erst einmal von diesem Strudel eingefangen worden war, würde nie wieder freikommen.
»Wir müssen abdrehen!« Gildas bemühte sich schwankend, zum Steuerrad zu gelangen; Finn versuchte angestrengt, ihm zu folgen. Gemeinsam zwängten sie sich neben Keiro, rissen an dem Rad und probierten mit
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