Incarceron
einfach erwacht. Das warâs. Um mich herum war alles schwarz und still, und mein Geist war vollkommen leer. Ich hatte keine Vorstellung davon, wer ich war oder wo ich mich befand.«
Von seiner Panik konnte er ihr nicht berichten, von dieser entsetzlichen, alles überlagernden Panik, die in ihm aufgestiegen war und ihn dazu gebracht hatte, auf die Mauern rings um ihn herum einzuschlagen und sich wundzustoÃen in jener winzigen, luftlosen Zelle.
Er konnte nicht sagen, dass er so lange geschluchzt hatte, bis er sich hatte übergeben müssen, dass er sich zitternd in einer
Ecke zusammengekauert hatte, in einer Ecke seines Geistes, in einer Ecke seiner Zelle, weil beides das Gleiche war und weil beides leer war.
Vielleicht erriet sie es, denn sie kam zu ihm und setzte sich neben ihn. Ihre Kleider raschelten.
»Wie alt warst du?«
Er zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Es ist drei Jahre her.«
»Vielleicht fünfzehn. Jung genug. Ich habe gehört, dass einige wirr und ohne Verstand geboren wurden und bereits älter waren. Du hast Glück gehabt.«
Erneut dieser Hauch von Mitleid. Trotz ihres harschen Tonfalls nahm er in ihrer Stimme eine Gefühlsregung wahr, und er erinnerte sich daran, wie besorgt sie vor dem Hinterhalt gewesen war. Sie war eine Frau, die mit anderen mitfühlte. Das war ihre Schwäche, und er würde sie sich zunutze machen müssen. Ganz so, wie Keiro es ihm beigebracht hatte.
»Ich war ohne Verstand, Maestra. Und manchmal bin ich das auch heute noch. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, keine Vergangenheit zu haben, seinen eigenen Namen nicht zu kennen, nicht zu wissen, woher man kommt, wo man sich befindet und was man ist. Ich stellte fest, dass ich einen grauen Overall trug, auf den ein Name und eine Nummer gedruckt waren. Der Name lautete Finn, und die Nummer war 0087/2314. Diese Ziffern habe ich immer wieder gelesen. Ich habe sie auswendig gelernt und sie mit scharfen Steinsplittern in blutigen Strichen in meinen Arm geritzt. Ich kroch wie ein schmutziges Tier auf dem Boden umher, während meine Haare immer länger wurden. Tag und Nacht war, wenn die Lichter an- und ausgingen. Essen wurde mir auf einem Tablett durch die Wand geschoben, Abfall verschwand auf die gleiche Weise. Ein oder zwei Mal habe ich meinen Mut zusammengenommen und versucht, mich
ebenfalls durch diese Ãffnung zu zwängen, aber sie schloss sich viel zu rasch wieder. Die meiste Zeit lag ich wie besinnungslos dort. Und wenn ich schlief, dann hatte ich entsetzliche Träume.«
Sie beobachtete ihn. Er spürte, dass sie sich fragte, wie viel davon wahr war. Ihre Hände waren stark und geschickt; sie arbeitete hart mit ihnen, das konnte er sehen, aber trotzdem hatte sie ihre Nägel mit roter Farbe bestrichen. Leise sagte er: »Ich kenne deinen Namen nicht.«
»Mein Name spielt keine Rolle.« Ihr Blick war unverwandt. »Ich habe von diesen Zellen gehört. Die Sapienti nennen sie die Gebärmutter Incarcerons. In ihnen erschafft das Gefängnis neue Menschen. Sie kommen als Kinder oder Erwachsene heraus, und zwar unversehrt und vollständig, nicht wie die Halbmenschen. Aber nur die Jungen überleben. Sie sind die Kinder von Incarceron.«
»Irgendetwas hat überlebt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gewesen bin.« Er wollte ihr noch mehr erzählen. Er wollte von den Albträumen voller unzusammenhängender Bilder berichten, davon, wie häufig er auch jetzt noch aufwachte und von Panik erfüllt war, weil er glaubte, alles wieder vergessen zu haben. Dann versuchte er verzweifelt, sich an seinen Namen zu erinnern und daran, wo er sich befand, bis ihn Keiros leises Atmen wieder beruhigte.
Stattdessen jedoch sagte er: »Und immer war da das Auge. Zuerst wusste ich nicht, was es war, und bemerkte es nur in der Nacht: ein winziger, roter Punkt, der in der Nähe der Decke glimmte. Nach und nach begriff ich dann, dass es zu allen Zeiten da war, und ich begann mir vorzustellen, dass es mich beobachtete und dass es kein Entkommen vor seinem Blick gab. Ich kam zu dem Schluss, dass eine Intelligenz dahinterstecken müsste, die neugierig und grausam war. Ich hasste das Auge und versuchte, es nicht anzublicken, und ich kauerte mich zusammen
und drückte mein Gesicht auf die klammen Steine, damit ich es nicht sehen musste. Nach einer Weile jedoch konnte ich nicht aufhören, mich umzusehen und mich zu
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