Incarceron
gleich damit beginnen, deine Aussteuer zusammenzupacken, meine Liebe.«
An der Tür blieb er noch einmal kurz stehen. Jared hatte sich
gebückt, um die scharfkantigen, gewölbten Glasstücke aufzusammeln. Claudia hatte sich nicht bewegt. Sie starrte den Hüter an, und sein Aussehen erinnerte sie für einen kurzen Augenblick an ihr eigenes Abbild, das sie jeden Morgen im Spiegel betrachtete. Er sagte: »Ich werde heute nicht mit euch speisen. Ich habe noch etwas zu erledigen. In meinem Arbeitszimmer. Wir scheinen ein Insektenproblem zu haben.«
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Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sprach keiner der beiden ein Wort. Claudia nahm wieder Platz, und Jared warf die Glasreste in einen Abfallbehälter, ehe er den Monitor einschaltete, der die Turmtreppe zeigte. Gemeinsam sahen sie zu, wie sich die dunkle, kantige Gestalt des Hüters mühsam einen Weg durch den Mäusedreck und die herabhängenden Spinnweben bahnte.
Endlich begann Jared: »Er weià es.«
»Natürlich weià er es.« Claudia bemerkte, dass sie zitterte. Sie zog sich einen alten Mantel von Jared über die Schultern. Unter ihrem Kleid trug sie noch immer ihren Jumpsuit, ihre Schuhe saÃen am jeweils falschen FuÃ, und ihr Haar war zu einem unordentlichen, verschwitzten Pferdeschwanz zusammengebunden. »Er ist gekommen, um es uns spüren zu lassen.«
»Er glaubt nicht, dass die Marienkäfer den Alarm ausgelöst haben.«
»Das habe ich dir doch gleich gesagt. Der Raum hat keine Fenster. Aber er würde nie zugeben, dass ich ihn ausgetrickst habe. Also spielen wir dieses Spiel.«
»Aber ⦠dass du den Schlüssel mitgenommen hast â¦Â«
»Er wird es nicht bemerken, wenn er die Schublade nur kurz aufzieht, um einen Blick hineinzuwerfen. Es wird ihm nur auffallen, wenn er ihn in die Hand nehmen will. Und bevor das geschieht, habe ich das Original schon wieder zurückgelegt.«
Jared wischte sich mit einer Hand über die Stirn. Dann lieà er sich zittrig auf einen Stuhl sinken. »Ein Sapient sollte so etwas nicht sagen, aber: Er macht mir Angst.«
»Ist alles mit dir in Ordnung?«
Seine dunklen Augen wandten sich ihr zu, und das Fuchsjunge sprang wieder hinab und scharrte an seinem Knie.
»Ja. Aber auch du machst mir Angst, Claudia. Warum, um alles in der Welt, hast du den Schlüssel gestohlen? Willst du den Hüter vielleicht wissen lassen, dass du diejenige warst, die eingedrungen ist?«
Claudia runzelte die Stirn. Manchmal war er einfach zu scharfsinnig. »Wo ist der Schlüssel überhaupt?«
Jared betrachtete sie einen kurzen Moment lang, dann verzog er gequält das Gesicht. Er nahm den Deckel von einem irdenen Topf, tauchte einen Haken hinein und hob den Schlüssel damit aus dem Formaldehyd. Der beiÃende Geruch der Chemikalie breitete sich in der Kammer aus; Claudia hielt sich den Ãrmel ihres Mantels vors Gesicht. »Mein Gott, gab es denn sonst kein Versteck?«
Sie hatte ihm den Schlüssel in die Hand gedrückt und war dann zu beschäftigt damit gewesen, sich umzuziehen, als dass sie gesehen hätte, wohin er ihn legte. Jetzt wickelte Jared ihn vorsichtig aus der Schutzhülle und legte ihn auf das knorrige, angesengte Holz seines Arbeitstisches. Beide starrten ihn an.
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Er war wunderschön. Claudia konnte deutlich die einzelnen Facetten ausmachen, die das Sonnenlicht von drauÃen einfingen und in den Farben eines Regenbogens zurückwarfen. Eingebettet in das Herz des Schlüssels war ein gekrönter Adler, der stolz zu ihnen emporblickte.
Aber der Schlüssel sah viel zu zerbrechlich aus, um in irgendeinem Schloss gedreht zu werden, und obwohl er durchsichtig
war, konnte man keinerlei Schaltkreise sehen. Claudia sagte: »Das Passwort, um die Schublade zu öffnen, war Incarceron .«
Jared hob eine Augenbraue. »Also hast du gedacht â¦Â«
»Es ist doch wohl offensichtlich, oder? Was sollte so ein Schlüssel wohl sonst aufschlieÃen? Nichts in diesem Haus benötigt einen Schlüssel wie diesen.«
»Wir haben keine Ahnung, wo sich Incarceron befindet. Und selbst wenn wir es wüssten, könnten wir den Schlüssel nicht benutzen.«
Claudia runzelte die Stirn. »Ich habe vor, es herauszufinden.«
Einen Moment lang dachte Jared nach. Dann legte er, von Claudia beobachtet, den Schlüssel auf eine kleine Waage und bestimmte das genaue Gewicht;
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