Incarceron
sich auf. Nach so einem Anfall fühlte er sich stets benommen und hatte einen staubtrockenen Mund.
Keiro sagte: »Dieses Mal war der Anfall ein bisschen ernster als sonst. Du hattest Krämpfe und hast gezuckt und um dich geschlagen, aber ich habe dich festgehalten, und Gildas hat dafür gesorgt, dass du dich nicht selbst verletzt. Die anderen haben nicht viel davon mitbekommen; sie waren viel zu beschäftigt damit, die Schätze anzuglotzen. Wir haben dich hierhergetragen.«
Die Verzweiflung trieb Finn die Röte ins Gesicht. Seine Ohnmachtsanfälle lieÃen sich unmöglich voraussehen, und Gildas kannte kein Heilmittel dagegen. Das jedenfalls behauptete er. Finn hatte keine Ahnung, was geschah, wenn ihn die heiÃe, tosende Dunkelheit umschloss, und er wollte es auch gar nicht erfahren. Es war eine Schwäche, und er schämte sich ihrer zutiefst, ungeachtet dessen, dass die Comitatus ihn mit scheuer Ehrfurcht behandelten. Im Augenblick fühlte er sich, als ob er seinen Körper verlassen und ihn beim Zurückkehren wund und leer vorgefunden hätte. Nun passte er ihm irgendwie nicht mehr richtig. »Ich bin mir sicher, dass ich auÃerhalb diese Anfälle nicht hatte.«
Keiro zuckte mit den Schultern. »Gildas kann es kaum abwarten, dich wegen deiner Visionen zu befragen.«
Finn blickte hoch. »Da muss er sich noch ein bisschen gedulden.« Unbehagliches Schweigen breitete sich aus, dann fuhr er fort: »Hat Jormanric ihren Tod befohlen?«
»Na, wer denn sonst? So etwas bereitet ihm Vergnügen. Und für uns ist es eine Warnung.«
Mit grimmiger Miene nickte Finn. Dann schwang er seine Beine aus dem Bett und starrte hinab auf seine abgewetzten Stiefel. »Dafür werde ich ihn töten.«
Keiro hob eine seiner fein geschwungenen Augenbrauen.
»Bruder, warum willst du dir diese Mühe machen? Du hast doch, was du wolltest.«
»Ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich hatte ihr versprochen, dass ihr nichts passieren würde.«
Einen Moment lang musterte Keiro ihn, dann sagte er: »Wir sind Abschaum, Finn. Unser Wort bedeutet gar nichts. Das wusste sie. Sie war eine Geisel. Wenn die Civitates dich in die Finger bekommen hätten, dann hätten sie dir vermutlich das Gleiche angetan, also verschwende keinen Gedanken mehr daran. Ich habe es dir schon einmal gesagt: Du grübelst einfach zu viel. Das macht dich schwach. Und in Incarceron ist kein Platz für Schwäche. Es gibt keine Gnade. Hier heiÃt es töten oder getötet werden.« Er starrte stur geradeaus, und in seiner Stimme hatte eine seltsame Bitterkeit gelegen, die Finn bei ihm noch nie gehört hatte. Als Keiro sich ihm wieder zuwandte, lag jedoch ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. »Also: Was ist denn nun ein Schlüssel?«
Finns Herz machte einen Satz. »Der Schlüssel! Wo ist er?«
Keiro schüttelte in gespielter Verwunderung den Kopf. »Was würdest du nur ohne mich tun?« Er hob seine Hand in die Luft, und Finn sah, dass er den Kristall von einem gekrümmten Finger baumeln lieÃ. Rasch wollte er sich ihn schnappen, doch Keiro riss ihn in letzter Sekunde weg. »Ich habe dich gefragt, was ein Schlüssel ist.«
Finn fuhr sich mit der Zunge über seine papiertrockenen Lippen. »Ein Schlüssel ist ein Gegenstand, der etwas öffnet.«
»Etwas öffnet?«
»Etwas aufschlieÃt, ja.«
Keiro konnte sich kaum bremsen. »Die Gefängnistüren zwischen den Flügeln? Jede Tür?«
»Ich weià es nicht. Ich ⦠erinnere mich einfach nur daran.« Hastig streckte Finn die Hand aus und griff erneut nach dem
Schlüssel, und dieses Mal lieà Keiro es widerstrebend geschehen.
Das Artefakt war schwer und aus seltsamen Glasfasern gewoben. Der Adler im eingelassenen Hologramm blickte Finn hoheitsvoll entgegen. Ihm fiel auf, dass der majestätische Vogel einen prächtigen Kragen um den Hals trug, der wie eine Krone geformt war. Finn schob seinen Ãrmel hoch und verglich das Bild im Schlüssel mit dem verblassten Mal auf seiner Haut.
Keiro sah ihm über die Schulter und sagte: »Sieht vollkommen gleich aus.«
»Ja, die beiden sind identisch.«
»Aber das bedeutet nichts. Wenn überhaupt, dann heiÃt das, dass du innerhalb Incarceron geboren wurdest.«
»Aber dieser Gegenstand stammt nicht von hier.« Finn hielt ihn sorgfältig in beiden Händen. »Schau ihn dir doch
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