Incarceron
Fingern hin und her gerollt und Claudia nicht aus den Augen gelassen.
Jetzt, da sie mit einem Satz vom Bett sprang und hinüber zum Toilettentisch ging, wo sie alle Schubladen durchsuchte, erinnerte sie sich an seinen kühlen, abschätzenden Blick, mit dem er seine Tochter taxiert hatte, die neben dem Schwachkopf gesessen hatte, mit dem sie schon bald verheiratet sein würde.
Der Schlüssel lag auch in keiner der Schubladen. Plötzlich lief ihr ein Schauder über den Rücken, und sie ging zum Fenster, entriegelte es, lieà den Flügel aufschwingen und hockte sich in elendiger Stimmung auf eines der Kissen auf dem Sims. Wenn ihr Vater sie liebte, wie konnte er ihr dann so etwas antun? Konnte er denn nicht sehen, in welch missliche Lage er sie brachte?
Der Sommerabend war warm und roch süà nach Levkojen, GeiÃblatt und den Moschusrosenhecken, die den Wassergraben säumten. Von weit her waren die Glocken der Hornsley-Kirche zu hören, und die zwölf Schläge wurden über die Felder getragen. Claudia beobachtete eine Motte, die hereingeflogen kam und unbekümmert um die Flammen der Kerzen flatterte. Einen kurzen Moment lang war ihr Schatten an der Decke riesengroÃ.
Hatte da ein neuer, grausamer Zug in seinem Lächeln gelegen? Hatte die dumme Frage bezüglich ihrer Mutter, die aus ihr herausgeplatzt war, die Gefahr noch verstärkt?
Ihre Mutter war gestorben. Das jedenfalls hatte Alys erzählt, doch die war zu jener Zeit gar nicht in diesem Hause angestellt gewesen, ebenso wenig wie irgendeiner der anderen Dienstboten mit Ausnahme von Medlicote, dem Sekretär ihres Vaters, mit dem sie kaum je ein Wort wechselte. Vielleicht sollte sie das ja mal tun. Denn ihre Frage war wie ein Messer durch die Rüstung des Hüters gedrungen, die aus einem einstudierten, ernsten
Lächeln und dem kalten Protokoll der Ãra bestand. Sie hatte ihm einen Hieb versetzt, und er hatte ihn gespürt.
Claudia lächelte, und ihr Gesicht glühte.
Das war noch nie zuvor geschehen.
War es möglich, dass irgendetwas am Tod ihrer Mutter seltsam war? Krankheiten waren weit verbreitet, aber für die Reichen lieÃen sich immer verbotene Medikamente auftreiben. Heilmittel, die zu modern für diese Ãra waren. Ihr Vater war streng, aber wenn er seine Frau geliebt hatte, dann hätte er doch sicherlich alles getan, um sie zu retten, ganz gleich, wie illegal es auch sein mochte. War es möglich, dass er dem Protokoll zuliebe seine Frau geopfert hatte? Oder war sogar etwas noch Schlimmeres vorgefallen?
Die Motte flatterte nun dicht unter der Decke. Claudia beugte sich vor und sah aus dem Fenster zum Himmel hinauf.
Die Sommersterne leuchteten. Sie strahlten die Dächer und die Giebel des Herrenhauses an und verliehen ihnen einen schwachen, gespenstischen Schimmer, wie es nur die Abenddämmerung vermag, und sie spiegelten sich in den schwarzen und silbernen Wellen auf dem Wasser des Grabens.
Ihr Vater war in den Tod von Giles verstrickt gewesen. War es möglich, dass er schon vorher jemanden getötet hatte?
Eine Berührung an ihrer Wange lieà sie zusammenfahren. Die Motte strich ihr mit den Flügeln über ihre Haut und flüsterte: âºAuf dem Fensterbrett â¹, dann war sie schon wieder zum Fenster hinaus und flatterte auf das schwache Licht in Jareds Turm zu.
Claudia lächelte breit.
Sie erhob sich und suchte unter den Kissen auf dem Sims, bis ihre Finger die kalte, kantige Form des Kristalls ertasteten. Vorsichtig zog sie ihn hervor.
Der Schlüssel fing das Licht der Sterne ein und hielt es fest.
Ein schwacher Schein schien von ihm auszugehen, und der Adler im Innern hielt eine Lichtsichel in seinem Schnabel.
Jared musste den Schlüssel hier hereingeschmuggelt haben, während alle anderen beim Abendessen saÃen.
Claudia traf alle nötigen VorsichtsmaÃnahmen, blies die Kerzen aus und schloss das Fenster. Dann nahm sie die schwere Steppdecke von ihrem Bett und wickelte sich darin ein, rieb an dem Schlüssel und hauchte ihn an.
»Sprich mit mir«, flüsterte sie.
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Finn war so kalt, dass er kaum genug Energie aufbringen konnte, um zu zittern. Im Metallwald herrschte tiefschwarze Finsternis; der Schein der Laterne war nur ein winziger Lichtkreis, der auf Keiros ausgestreckte Hand und auf den kleinen Haufen fiel, zu dem Gildas sich zusammengerollt hatte. Das Mädchen war lediglich ein Schatten unter einem Baum; es gab
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