Incarceron
Lichter sind angegangen. Ich ⦠Ich bin an einem fremden Ort, in einem anderen Flügel. In einem Metallwald.«
Seltsamerweise sagte sie: »Ich beneide dich. Das muss faszinierend sein.«
»Finn?« Gildas war auf den Beinen und suchte nach ihm. Einen Moment lang wollte Finn ihn zu sich rufen, doch dann setzte die Vorsicht ein. Dies war sein Geheimnis. Er musste es bewahren.
»Ich muss gehen«, sagte er hastig. »Ich versuche, noch einmal mit dir zu sprechen ⦠Jetzt wissen wir ja ⦠Das heiÃt, falls du es auch willst. Aber das musst du«, fügte er drängend hinzu. »Du musst mir helfen.«
Die Antwort des Mädchens überraschte ihn. »Wie kann ich dir helfen? Was könnte in einer vollkommenen Welt nicht stimmen?«
Finns Hand verkrampfte sich, während das blaue Licht verebbte. Verzweifelt flüsterte er: »Bitte. Du musst mir dabei helfen zu fliehen.«
13
Wände haben Ohren.
Türen haben Augen.
Bäume haben Stimmen.
Tiere erzählen Lügen.
Hüte dich vor dem Regen.
Hüte dich vor dem Schnee.
Hüte dich vor dem,
den du zu kennen glaubst.
LIEDER VON SAPPHIQUE
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F inns Stimme .
Als Claudia ihren Fechthandschuh überstreifte und ihr Florett bog, glaubte sie, seine Stimme unter ihrer Maske flüstern zu hören.
Du musst mir dabei helfen zu fliehen  â¦
» En garde! Bitte, Claudia!« Ihr Fechtlehrer war ein kleiner, grauhaariger Mann, der übermäÃig schwitzte. Seine Klinge kreuzte sich mit ihrer; er gab seine Signale mit den kaum merkbaren, präzisen Bewegungen eines ausgebildeten Fechters. Ohne darüber nachzudenken, reagierte Claudia, übte Ausfallschritte und Paraden  â Sixt, Septim, Oktav  â, wie sie es immer getan hatte, seitdem sie sechs Jahre alt geworden war.
Da hatte irgendetwas Vertrautes in der Stimme des Jungen gelegen.
In der warmen Dunkelheit ihrer Maske kaute Claudia auf ihrer Unterlippe, parierte einen Angriff, nahm eine Quart-Position ein, setzte zum Gegenschlag an und traf die wattierte Jacke des Maestros mit einem befriedigenden, dumpfen Geräusch.
Der Akzent, die leicht gedehnten Vokale. So sprach man bei Hof .
»Vorgetäuschter, gerader StoÃ. Löst Euch, bitte.«
Claudia gehorchte. Ihr war jetzt heiÃ, und ihr Handschuh wurde bereits weich vom SchweiÃ. Sie führte ihre Klinge mit raschen, kleinen Bewegungen; die kurzen, klackenden Geräusche während der altvertrauten Ãbungen waren tröstend, und die Kontrolle, die sie über ihr Florett hatte, brachte ihre Gedanken zum Rasen.
Du musst mir dabei helfen zu fliehen.
Angst. Da hatte Angst in der flüsternden Stimme mitgeschwungen, als befürchtete Finn, bei dem, was er sagte, belauscht zu werden. Und das Wort âºfliehenâ¹ hatte wie etwas Heiliges geklungen, wie etwas Verbotenes, und tiefe Ehrfurcht hatte darin gelegen.
»Quart-Parade, bitte, Claudia. Und haltet Eure Hand richtig hoch.«
Gedankenverloren parierte sie, und die Klingen der beiden Florette glitten an ihrem Körper vorbei.
Hinter dem Maestro trat Lord Evian durch den Haupteingang auf den Hof, blieb auf der Treppe stehen und genehmigte sich eine Prise Schnupftabak. Dann baute er sich affektiert an der Seite auf und beobachtete sie.
Claudia runzelte die Stirn.
Es gab so viel, worüber sie nachdenken wollte. Die Fechtstunde hatte ihr die Möglichkeit für eine kleine Flucht geboten. Im Haus herrschte Chaos; man packte gerade ihre Kleidung  â die letzten MaÃe für ihr Hochzeitskleid waren genommen worden. Die Bücher, die sie auf keinen Fall zurücklassen wollte, wurden
zusammengestellt, und man suchte nach den Haustieren, auf deren Mitnahme Claudia bestanden hatte. Und nun das.
Auf jeden Fall würde Jared den Schlüssel verwahren müssen. In ihrem Gepäck wäre er nicht sicher.
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Nach den Aufwärmübungen begannen sie jetzt zu kämpfen. Claudia verdrängte alle Gedanken und konzentrierte sich auf die Hiebe, die Paraden, das Biegen ihrer Klinge, als sie traf, dann noch einmal und ein weiteres Mal.
SchlieÃlich trat ihr Lehrer einen Schritt zurück und sagte: »Sehr gut, Mylady. Wie immer habt Ihr Euer Florett ausgezeichnet unter Kontrolle.«
Langsam zog Claudia ihre Maske ab und schüttelte die Hand des Maestros. Von Nahem sah ihr Lehrer älter und ein wenig betrübt aus.
»Ich bedauere es sehr, eine solche
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