Incarceron
Jahrhunderte nur den Reichen vorbehalten sind und in der die Künstler und Poeten zu endlosen Wiederholungen verdammt sind und nichts anderes tun dürfen, als fantasielose Neubearbeitungen der alten Meisterwerke vorzunehmen. Nichts ist neu. Neu existiert überhaupt nicht. Nichts verändert sich, nichts wächst, gedeiht und entwickelt sich. Die Zeit ist stehen geblieben. Fortschritt ist verboten.«
Er beugte sich vor. Claudia hatte ihn noch nie so ernst gesehen, so bar seiner sonstigen verweichlichten Tarnung, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Es hatte den Anschein, als wäre er mit einem Mal zu jemand ganz anderem geworden, nämlich zu einem alten, erschöpften, verzweifelten Mann.
»Wir sterben, Claudia. Wir müssen diesen Kerker aufbrechen, in den wir uns selbst eingemauert haben, und wir müssen diesem unermüdlichen Rad entfliehen, das wir wie die Ratten antreiben.
Ich selbst habe mein Leben einem einzigen Ziel gewidmet, nämlich dem, uns zu befreien. Wenn es meinen Tod bedeuten sollte, dann kümmert mich das nicht, denn selbst der Tod wird eine Art Freiheit sein.«
In der Stille krächzten die Raben, die über ihren Köpfen die Baumwipfel umkreisten. Pferde wurden im Vorhof der Stallungen angeschirrt, und ihre Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster.
Claudia leckte sich über ihre trockenen Lippen. »Ihr dürft jetzt noch nichts unternehmen«, flüsterte sie. »Es könnte sein, dass ich ⦠Informationen für Euch habe. Aber es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt.« Sie stand rasch auf, denn sie wollte nichts weiter sagen und dem Gefühl der quälenden Pein entfliehen, das er ihr wie eine offene Stichwunde an Leib und Seele zugefügt hatte. »Die Pferde sind bereit. Los, kommt.«
Â
Die StraÃen waren voller Menschen, von denen keiner sprach. Das Schweigen machte Finn entsetzliche Angst; es war so intensiv, und die begierigen Blicke, die ihm folgten, brachten ihn zum Stolpern. Es waren Frauen und verwahrloste Kinder, Verstümmelte, Alte und Soldaten, die ihn kalt und neugierig anstarrten. Finn wagte nicht, ihre Blicke zu erwidern, sondern hielt den Kopf gesenkt und schaute auf seine FüÃe, den Staub der StraÃe, überallhin, nur nicht zu ihnen.
Der einzige Laut, der in den steil ansteigenden StraÃen zu hören war, war der stetige Gleichschritt der sechs Wachen rechts und links von ihm; die Sohlen ihrer eisenbeschlagenen Stiefel hallten auf dem Kopfsteinpflaster. Weit über ihnen kreiste wie ein böses Omen ein einziger, groÃer Vogel und lieà seine klagenden Schreie zwischen den Wolken ertönen. Die Winde trieben sie als Echos durch das Gewölbe Incarcerons.
Dann begann jemand, auf die Schreie des Vogels zu antworten;
es war eine einfache Klagemelodie, die wie ein Signal wirkte, das die Menge mit leisem Gesang aufgriff. All ihre Sorgen und ihre Furcht verschmolzen in diesem seltsamen, weichen Lied. Finn lauschte auf die Worte, doch er konnte nur Fragmente heraushören: ⦠der Silberfaden, der zerreiÃt⦠die endlosen Gänge voller Schuld und Träume ⦠Und wie ein Chor ertönte der klagende, quälende Refrain: Sein Knöchel ist der Schlüssel, sein Blut das Ãl, welches das Schloss schmiert .
Als sie um eine Ecke bogen, schaute Finn zurück.
Gildas lief weiter hinten, ganz allein. Die Wachen beachteten ihn überhaupt nicht. Er jedoch bewegte sich mit festem Schritt, den Kopf hoch erhoben, und die Blicke der Menschen wanderten verwundert über das Grün seines Umhangs, der ihn als Sapienten kennzeichnete.
Der alte Mann blickte finster und unbeirrt, als er Finn ein kurzes, ermutigendes Nicken zuwarf.
Von Keiro oder Attia fehlte jede Spur. Verzweifelt suchte Finn die Menge ab. Hatten sie herausgefunden, was mit ihm geschehen sollte? Würden sie vor der Höhle auf ihn warten? Hatten sie mit Claudia gesprochen? Die Angst nagte an ihm, und er wollte den Gedanken an das, was er am meisten fürchtete, nicht zulassen. Doch die Sorge lauerte in der Dunkelheit seines Geistes wie eine Spinne oder wie Incarcerons höhnischstes Flüstern: der Gedanke daran, dass Keiro den Schlüssel genommen hatte und fortgegangen war.
Finn schüttelte den Kopf. In den drei Jahren bei den Comitatus hatte Keiro ihn niemals hintergangen. Er hatte ihm das Leben schwer gemacht, ihn sogar ausgelacht, ihn bestohlen, gegen ihn gekämpft und mit ihm gestritten.
Weitere Kostenlose Bücher