Incarceron
Aber er war immer da gewesen. Und doch wurde Finn plötzlich mit bestürzender Gewissheit klar, wie wenig er von seinem Eidbruder wusste. Er konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, woher er eigentlich
stammte. Keiro hatte lediglich berichtet, dass seine Eltern tot seien. Finn hatte niemals irgendwelche Fragen gestellt, denn er war immer viel zu sehr mit seinem eigenen, quälenden Verlust beschäftigt gewesen, mit den Erinnerungsfetzen, die plötzlich aufdämmerten, und mit seinen Anfällen.
Er hätte fragen sollen.
Er hätte sich für ihn interessieren sollen.
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Winzige, schwarze Blütenblätter regneten mit einem Mal auf ihn nieder. Als er den Kopf hob, sah er, dass die Menschen ihn damit bewarfen. Ganze Hände voll schleuderten sie in seine Richtung, und sie fielen auf das Pflaster und bildeten unter seinen FüÃen einen duftenden, dunklen Teppich. Ihm fiel auf, dass die Blütenblätter eine sonderbare Beschaffenheit hatten; wenn sie aufeinander zu liegen kamen, verschmolzen sie, sodass die Gossen und StraÃen von einer klebrigen, zusammengeklumpten Masse bedeckt waren, die den süÃesten aller Düfte ausströmte.
Finn begann, sich komisch zu fühlen. Und als ob er plötzlich in einen Traum hinübergeglitten wäre, erinnerte er sich an die Stimme, die er in dieser Nacht gehört hatte.
Ich bin überall . Als ob das Gefängnis ihm geantwortet hätte. Er blickte empor, als sie jetzt durch das gähnende Maul des Tores marschierten, und da sah er ein einzelnes, rotes Auge im Fallgitter, dessen starrer Blick ihn fixierte.
»Kannst du mich sehen?«, flüsterte er. »Hast du mit mir gesprochen?«
Doch schon lag das Tor hinter ihnen, und sie hatten die Stadt verlassen.
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Die unbelebte StraÃe lag nun schnurgerade vor ihnen. Die klebrige, ölige Masse war bis hierher gelaufen. Finn hörte, wie hinter ihm die Tore und Türen zugeworfen und die hölzernen Balken
vorgeschoben wurden und wie die eisernen Gitter herunterrasselten. Hier drauÃen, unter der Kuppel Incarcerons, schien die Welt leer, und über die offene Ebene tobten eisige Winde.
Die Soldaten nahmen eilig die schweren Ãxte herunter, die sie auf den Schultern trugen. Die Wache an der Spitze hatte ein Gerät bei sich, an dem ein Kanister befestigt war. Es musste sich dabei um eine Art Flammenwerfer handeln, wie Finn annahm. Er rief: »Wartet, bis der Sapient uns eingeholt hat.«
Sie wurden langsamer, als wäre er nun nicht mehr länger ihr Gefangener, sondern ihr Anführer. Als Gildas schnaufend zu ihnen aufgeschlossen hatte, sagte er: »Dein Bruder hat sich nicht blicken lassen.«
»Er wird schon noch auftauchen.« Es half, die Worte laut auszusprechen.
Sie liefen schnell, zusammengedrängt zu einer festen Gruppe. Zu beiden Seiten war die StraÃe von Gruben und Fallen gesäumt; Finn sah stählerne Zähne in der Tiefe blitzen. Als er zurückblickte, war er überrascht, wie weit die Stadt bereits hinter ihnen lag. Auf der Stadtmauer standen die Menschen, sahen ihnen nach, riefen ihnen hinterher und hielten ihre Kinder hoch, damit diese besser sehen konnten.
Der Anführer der Wachen sagte: »Wir biegen hier von der StraÃe ab. Seid vorsichtig. Tretet nur dorthin, wo wir unsere Stiefel hinsetzen, und denkt nicht einmal daran, fortlaufen zu wollen. Ãberall im Boden sind Feuerkugeln eingelassen.«
Finn hatte keine Ahnung, was Feuerkugeln sein mochten, aber Gildas runzelte die Stirn. »Das Biest muss tatsächlich Furcht einflöÃend sein.«
Der Mann erwiderte den finsteren Blick. »Ich habe es noch nie zu Gesicht bekommen, Meister, und das soll sich auch nicht ändern.«
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Nachdem sie die gut befestigte StraÃe verlassen hatten, war das Vorankommen mühsam. In die kupferne Erde schienen riesige Furchen gekerbt worden zu sein, welche an vielen Stellen verbrannt waren. Dort war der Boden zu einer bröckeligen Kohle zusammengeschmolzen, die in schwarzen Staubwolken aufwirbelte, wenn man drauftrat. An anderen Stellen war die Erde fast wie Glas geschmolzen. Nur eine enorme Hitze konnte so etwas bewirkt haben, dachte Finn. AuÃerdem stank es beiÃend nach Asche. Finn hielt sich nahe bei den Männern und beobachtete ihre Schritte mit nervöser Aufmerksamkeit. Als sie haltmachten, hob er den Kopf und sah, dass sie weit drauÃen in der Ebene waren. Die Lichteraugen des Gefängnisses
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