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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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erstaunte es ihn, als er feststellte, dass von Jorge La Roqua jetzt jede Spur fehlte. Dort, wo er gestorben war, befand sich zwar noch der nass-rote Blutfleck im Laub, aber der Leichnam war wie vom Erdboden verschluckt. Das allein wäre noch erklärbar gewesen – vielleicht hatten die Wilden ihn verschleppt –, aber was John vollkommen verwirrte, war, dass der Indianer mit dem abgeschlagenen Arm jetzt von Kopf bis Fuß in einer Blutlache lag. Auch schienen seine missgebildeten Gelenke wie durch ein Wunder post mortem geheilt zu sein. Er sah jetzt nicht mehr aus wie eine zusammengesetzte Gliederpuppe, sondern wie ein Mensch. Wie um alles in der Welt konnte das sein?
    Während John verzweifelt versuchte, die neue Situation zu verstehen, gab Orellana schon wieder den Abmarschbefehl. Flankiert von seinen engsten Getreuen, ritt er in gemächlichem Tempo auf die Blätterwand zu, die noch immer wie eine Mauer vor ihnen in die Höhe wuchs. John wollte ihm schon nachrufen, dass dort kein Durchkommen war, sah zu seinem grenzenlosen Erstaunen jedoch, dass es dem Einäugigen mühelos gelang, das zuvor stahlharte Geflecht aus Blättern und Ästen zu zerteilen. Orellana und seine Reiter verschwanden darin wie Schauspieler hinter einem Theatervorhang.
    Ungläubig schüttelte John den Kopf. Allmählich hatte er das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
    Hinter dem Blättervorhang schien sich eine andere Welt aufzutun. Der Wald wirkte plötzlich noch farbenprächtiger, noch üppiger, noch beeindruckender als bisher, was nach Johns Meinung daran lag, dass die Kronen der Baumriesen hier aus irgendeinem Grund nicht so dicht wuchsen und daher mehr Licht zum Boden drang. Helligkeit und Farbenvielfalt ließen einen Großteil des Dschungels sofort freundlicher erscheinen. Gleichzeitig wirkten die schattigen Stellen nun umso dunkler und bedrohlicher. Es war, als würde die Natur sich hier in ihrer extremsten Form präsentieren, eine Mischung aus Traum und Albtraum, märchenhaft schön und gleichzeitig abschreckend rau.
    Der erste Tag in dieser neuen, zauberhaften Umgebung verlief ohne besondere Zwischenfälle. Bedingt durch den stärkeren Lichteinfall drängten sich Farne, Büsche und kleine Bäume zu einem wahrhaften Dickicht zusammen, was dazu führte, dass der Zug langsamer als bisher vorankam. Aber wenigstens gab es keine weiteren tödlichen Zwischenfälle.
    Das änderte sich schon am kommenden Morgen. Als John aus dem Schlaf hochschreckte, hätte er schwören können, durch einen Schrei aufgewacht zu sein. Er schlug die Augen auf, lauschte, konnte aber nichts Ungewöhnliches mehr hören. In der anbrechenden Morgendämmerung begannen die Vögel in den Baumkronen, ihre Lieder der vernebelten Sonnenscheibe entgegenzuzwitschern. Vereinzelt drang Affengebrüll durch den Wald, hohl und klagend. Und natürlich lag über all dem das vibrierende Summen und Zirpen der Insekten. Ein bilderbuchhafter Morgen im Dschungel.
    Dennoch war John sicher, dass etwas Schreckliches passiert war.
    Er erhob sich von seinem Schlafplatz, um sich einen Überblick zu verschaffen. Links und rechts neben ihm lagen andere Expeditionsteilnehmer, die noch immer fest schliefen. Offenbar hatten sie nichts Verdächtiges gehört. Nicht einmal die beiden Hunde, die den Pfeilregen der Eingeborenen überlebt hatten, regten sich.
    John fühlte sich dadurch nicht beruhigter.
    Langsam drehte er sich um die eigene Achse. Dichter Bodennebel, der in milchigen Schwaden zwischen den Blättern und Zweigen hing, erschwerte die Sicht. Angestrengt versuchte John, klare Konturen zu erkennen.
    Nichts.
    Er wartete, lauschte, ließ weiter den Blick kreisen. Obwohl das ungute Gefühl eher stärker als schwächer wurde, blieb der Wald weiterhin ruhig.
    Ich muss mich getäuscht haben, dachte er und beschloss, sich wieder hinzulegen.
    Dann sah er plötzlich, wie sich knapp fünfzig Meter vor ihm die ausladenden Blätter eines übermannshohen Farns hin und her bewegten, leise und unheimlich. John war sicher, dass sich dort jemand aufhielt. Oder etwas. Automatisch wanderte seine Hand zum Schwertgriff an seiner Hüfte.
    Mit einem Fußtritt weckte er Felipe Fuentes, der neben ihm auf dem Boden lag und lauthals schnarchte. Fuentes verschluckte sich, wälzte sich träge zur Seite und blinzelte John verschlafen an. Die Strapazen der Reise hatten den drahtigen Mann weiter ausgezehrt, was sein wieselhaftes Äußeres noch verstärkte. Er öffnete den Mund, zweifellos, um sich bei John über den unsanften

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