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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Wir haben getötet und vergewaltigt. Wir haben gegen die Gebote des Herrn verstoßen. Dafür hat er uns eine bittere Lektion erteilt.«
    John nickte stumm. In gewisser Weise war der heutige Überfall die gerechte Strafe für die Selbstherrlichkeit und Rücksichtslosigkeit der spanischen Eroberer. Die Konquistadoren hatten es nicht anders verdient. Ungerecht war nur, dass der Angriff auch zahllosen Unschuldigen das Leben gekostet hatte.

Kapitel 16
    Johns sehnlichster Wunsch war es, diesen Wald ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Endlich wieder nach London zurückkehren zu können oder wenigstens nach Quito. Überall war es besser als hier. Doch nach Gonzalo Pizarros Tod übernahm Francisco de Orellana die Führung, und im Streben nach Reichtum und Ruhm stand er seinem Cousin in nichts nach. Den Schock über die Niederlage gegen die Wilden überwand er erstaunlich schnell. Als er die Überlebenden des Gemetzels zusammentrommeln ließ, um eine Ansprache zu halten, wirkte er nicht mehr entmutigt, sondern geradezu angestachelt durch den herben Verlust.
    »Wir alle kannten das Risiko«, begann er. »Jeder von uns wusste, dass in diesem Wald der Tod lauert, wenngleich niemand ahnen konnte, dass er auf solch vernichtende Weise zuschlagen würde.« Mit einer ausladenden Geste deutete er auf das Schlachtfeld, das ihn und den traurigen Rest des Zuges umgab. Tote Leiber von Menschen und Tieren, so weit das Auge reichte. John hatte eine so tiefe Wehmut erfasst, dass er nur noch am Rande die weitere Rede Orellanas mitbekam. Er sprach von Entbehrungen und Schmerzen, von Schweiß und Arbeit und von den schweren Opfern, die für jeden großen Erfolg erbracht werden mussten. Es klang ziemlich pathetisch, verfehlte seine Wirkung jedoch nicht. Je länger er auf seine kleine, eingeschüchterte Gefolgschaft einredete, desto mehr schien sie ihm an den Lippen zu kleben. In dieser Stunde, das spürte der Einäugige wohl instinktiv, benötigten diese Menschen eine starke Hand, jemanden, der ihnen sagte, wie es nun weitergehen solle, um nicht in Verzweiflung zu geraten.
    Orellana sprach lange und eindringlich. Er ehrte die Getöteten und spendete den Überlebenden Trost. Für jeden schien er die passenden Worte zu finden. John spürte, wie es dem Spanier gelang, einen nach dem anderen auf seine Seite zu ziehen. Als er auf die Schätze des Waldes zu sprechen kam und darüber philosophierte, was sie sich damit alles würden leisten können, glühte er vor Erregung. Sein gesundes Auge huschte dabei wie vom Wahnsinn getrieben von einem zum anderen. »Wir werden das Gold von Eldorado finden und als Helden heimkehren – oder in diesem Dschungel sterben wie unsere Kameraden!«, brachte er seine Rede schließlich auf den Punkt.
    Also kehrten sie dem Schlachtfeld den Rücken und überließen die Toten ihrem Schicksal – sie zu begraben, hätte zu viel Zeit beansprucht. Das gefiel Gaspar de Carvajal zwar überhaupt nicht, aber Orellana ließ ihm keine Wahl. Ein rascher Segensspruch war alles, was er dem Dominikanermönch zugestand.
    Angeführt von Orellana und vier weiteren Berittenen, trottete der kleine Zug los. John, in Gedanken noch zu sehr mit den schrecklichen Ereignissen des Tages beschäftigt, achtete gar nicht auf den Weg, den sie einschlugen, und war nicht wenig überrascht, als sie den Fuß der Anhöhe erreichten, auf die er und Jorge La Roqua geflüchtet waren.
    Orellana unterhielt sich mit seinen Ratgebern. Einer von ihnen war im Besitz eines Kompasses. Er deutete mit der Hand den Hügel hinauf und sagte, dass dies der direkte Weg nach Eldorado sei.
    John seufzte innerlich auf. Er verspürte nicht die geringste Lust, noch einmal an jenen Ort zurückzukehren, an dem er beinahe sein Leben verloren hätte und an dem er La Roqua auf grausame Weise hatte sterben sehen. Nicht zuletzt die Merkwürdigkeiten, mit denen er dort oben konfrontiert worden war, schreckten ihn ab: die undurchdringbare Blätterwand und der tote Indianer mit den deformierten Gelenken, der trotz schwerer Wunden keinen Tropfen Blut verloren hatte. Dort oben waren Mächte am Werk, die sich jeglicher Logik entzogen, und das machte ihm Angst.
    Orellana trat seinem Pferd in die Flanken und preschte die Anhöhe hinauf, gefolgt von den anderen Reitern. Der Rest des Zugs, darunter auch John, folgte in langsamerem Tempo.
    Oben angekommen wuchs Johns Unbehagen mit jedem Schritt. Bis zuletzt vermied er den Blick auf das Grauen, dessen Zeuge er geworden war. Umso mehr

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