Incognita
Magnet – die Faszination der Gewalt. Vorsichtig näherte er sich dem reglos am Boden liegenden Spanier. Das Gesicht war zerschmettert, die Lanzenspitze ragte blutrot aus seinem Brustharnisch. Unter seinem Körper bildete sich jetzt rasch eine feucht glitzernde Lache. John spürte, wie sein Magen rebellierte, und er erbrach sich. Danach fühlte er sich kaum besser.
Der Anblick war so schockierend, dass er kein Bedürfnis nach weiteren Abscheulichkeiten verspürte. Dennoch wanderten seine Augen ganz automatisch zu den toten Indianern, die ein Stück abseits im Laub lagen. Zwei von ihnen waren ebenfalls blutüberströmt, aber ausgerechnet der dritte – jener, dem La Roqua den linken Arm abgeschlagen hatte – schien merkwürdigerweise völlig frei von Blut zu sein. Mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier ging John zu dem Mann hinüber.
Je näher er kam, desto eigenartiger kam ihm das Bild vor, das sich ihm bot. Der Indianer war zweifellos tot – allein die Art, wie er auf dem Boden lag, ließ daran keinen Zweifel. Gleichzeitig war genau das auch der Punkt, der John verwirrte: Der Körper glich eher einer Gliederpuppe als einem Toten. Ein Bein stand vom Knie an abwärts im rechten Winkel vom Oberschenkel ab, das zweite war nach hinten verdreht. Noch bizarrer mutete der rechte Arm des Toten an. Unter- und Oberarm wirkten wie zwei voneinander unabhängige Teile eines Bausatzes, so als würden sie gar nicht zusammengehören. Das Ellbogengelenk schien mit Brachialgewalt herausgerissen worden zu sein, nur noch umhüllt von loser Haut. Und der andere, abgeschlagene Arm lag ein Stück abseits auf dem Boden, eingebettet in eine dicke grüne Laubschicht.
Was zum Teufel ist mit diesem Mann geschehen?, fragte John sich angesichts des sonderbaren Anblicks. Eine Leiche mit Knochenbrüchen und klaffenden Wunden wie nach einem Zusammenprall mit einem Güterzug – aber ohne einen einzigen Tropfen Blut? Wie um alles in der Welt war das möglich?
Verwirrt beschloss John, zum Zug zurückzukehren. Obwohl er während der Flucht die Orientierung verloren hatte, fand er den Rückweg erstaunlich problemlos. Einzelne Landmarken – auffällige Büsche und Bäume oder besonders farbenprächtige Blütenformationen – hatten sich ihm ins Unterbewusstsein eingeprägt und signalisierten ihm nun, wo er entlangmusste. Nach weniger als einer halben Stunde war er wieder am Ursprungsort.
Auch wenn er geahnt hatte, was ihn erwartete, traf ihn der Anblick bis ins Mark. Von dem ohnehin schon stark dezimierten Tross war nun nur noch ein kümmerlicher Rest übrig geblieben: rund dreißig spanische Soldaten, noch einmal so viele Indios und zwei Hunde. Der Rest war dem Angriff der Wilden zum Opfer gefallen. Die Kadaver lagen weit verstreut im Wald. Es war das leibhaftige Grauen.
Unter den Überlebenden befand sich auch Francisco de Orellana, dem der Schock über die zurückliegende Katastrophe deutlich anzusehen war. Der Einäugige schritt das Leichenfeld ab, wobei er gar nicht mehr damit aufhörte, den Kopf vor Ungläubigkeit zu schütteln und wirres Zeug vor sich hinzumurmeln. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Keine Spur mehr von seiner einstigen Arroganz.
Den anderen spanischen Soldaten ging es offenbar ähnlich. Manche saßen einfach nur auf dem Boden und starrten geistesabwesend vor sich hin wie leere menschliche Hüllen. Andere ließen ihren Tränen freien Lauf. Die wenigen, die sich bereits wieder im Griff hatten, suchten nach Verletzten, allerdings ohne allzu großen Erfolg. Das Pfeilgift hatte selbst jene getötet, die nur eine Schramme abbekommen hatten.
John spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte, und drehte sich um. Hinter ihm stand Gaspar de Carvajal. »Ich freue mich, dass Ihr noch lebt, Ortega. Dankt es dem Herrn. Dankt es ihm aus tiefstem Herzen, denn seht Euch dieses Schlachtfeld an!« Die Stimme des Dominikaners klang hohl und kraftlos. »Wir wussten bis zum Schluss nicht, wo unsere Feinde sich versteckt hielten. Wir hörten nur immer wieder ihre Pfeile heransurren. Alles, was wir tun konnten, war, irgendwo Deckung zu suchen. Aber da die Pfeile aus allen Richtungen auf uns niederprasselten, war das beinahe unmöglich. Nie habe ich Schrecklicheres erlebt als das hier. Nie habe ich mehr Menschen und Tiere an einem einzigen Tag sterben sehen. Was wir heute zu spüren bekamen, ist der Zorn Gottes, und das mit ganzer Kraft. Wir haben die Bewohner dieses Waldes respektlos behandelt. Wir waren anmaßend.
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