Incognita
erkannte er im Mund des Spaniers eine klaffende Wunde. Dort, wo einmal seine Zunge gewesen war, befand sich jetzt nur noch ein hässliches, blutendes Loch.
Wenig später hatte sich die komplette Gruppe um den Totgeglaubten versammelt. Er wurde von allen Seiten mit Fragen bombardiert, war ohne Zunge jedoch nicht in der Lage, sich verständlich auszudrücken. Da er auch nicht des Lesens und Schreibens mächtig war, blieb er alle Antworten schuldig. Das einzige Wort, das er immer und immer wieder von sich gab, war: »Uahai!«, und je öfter er es wiederholte, desto größer schien seine Verzweiflung darüber zu werden, dass niemand ihn verstand. Irgendetwas wollte er damit sagen. Etwas Wichtiges.
Plötzlich begriff John. »Es soll Uracai heißen!«, platzte er heraus.
La Roqua sah ihn einen Moment lang verdutzt an, dann begann er heftig zu nicken. »Uahai! Uahai!«
»Er spricht von einem Dämon, den der Napo-Häuptling erwähnt hat«, stellte Gaspar de Carvajal noch einmal für alle fest. Nur ein kleiner Teil der Gruppe hatte damals die Ausführungen des Aparia mitbekommen.
»Ein Dämon?«, wiederholte Felipe Fuentes.
»Ein Halbwesen, das in diesem Teil des Waldes leben soll.«
Das Wiesel schüttelte fassungslos den Kopf. »Und wann bitte wolltet Ihr uns darüber in Kenntnis setzen?« Die Frage war direkt an Francisco de Orellana gerichtet und klang so vorwurfsvoll, dass diesem die Zornesröte ins Gesicht stieg.
»Es gibt keine Dämonen!«, herrschte er Fuentes an. »Weder hier noch sonst irgendwo auf der Welt. Nur Weibsbilder und Narren glauben an solchen Humbug! Dieser Dämon ist nichts weiter als ein Ammenmärchen, ersonnen, um Abenteurer wie uns davon abzuhalten, nach den Schätzen Eldorados zu suchen! Dieser Dämon ist ein Fantasieprodukt …«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment packte ihn Jorge La Roqua an der Gurgel und drückte ihn gegen den nächststehenden Baum. Dem Würgegriff des spanischen Hauptmanns war selbst ein erfahrener Kämpfer wie Orellana nicht gewachsen. Er keuchte, rang nach Atem, versuchte, sich dem schraubstockartigen Griff des spanischen Hauptmanns zu entwinden. »Lasst mich los! Das ist ein Befehl«, presste er hervor.
La Roqua, dem das Blut noch immer aus den Mundwinkeln lief, fixierte ihn. Dann deutete er in den Wald hinein und wiederholte eindringlich: »Uahai!«
In diesem Moment begannen die Hunde zu knurren. Irgendwo im Nebel war das Rascheln von Laub zu vernehmen, dazu ein kehliges Grollen, tief und düster. Dort draußen lauerte etwas. Etwas Großes, Unheimliches. Und nach den Geräuschen zu urteilen, kam es rasch näher.
La Roqua wurde augenblicklich wieder zum verängstigten Kind. Er ließ von Orellana ab, sah in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und wich wie paralysiert Schritt für Schritt vor dem unsichtbaren Gegner zurück. Seine Angst steckte auch die anderen an. Selbst Francisco de Orellana schien die Existenz des Dämons plötzlich für möglich zu halten, anders war sein Gesichtsausdruck nicht zu erklären. Wald der Angst hatte der Aparia diesen Teil des Dschungels genannt – John wusste jetzt, weshalb.
»Lasst die Hunde los!«, befahl Orellana.
Salvator Souza, der Hundeführer, machte sich eilig daran, die Leinen zu lösen. »Apollo! Hector! Greift euch das Biest!«, zischte er aufgeregt. »Fasst die Bestie und tötet sie!«
Die Hunde sprinteten davon. Obwohl John sie im nebelverhangenen Blätterdickicht rasch aus den Augen verlor, konnte er ihren Weg durch ihr lautes Gebell mitverfolgen. Offenbar kannten sie keine Furcht. Wie Pfeile jagten sie durchs Unterholz, geradewegs auf ihr Ziel zu.
Plötzlich ging das Kläffen in erschrecktes Winseln über, gefolgt von einem kläglichen Aufjaulen. Dann herrschte mit einem Mal Stille, lastend und unheimlich. John hatte keinerlei Zweifel, was das zu bedeuten hatte.
»Oh nein!«, kreischte Souza aufgelöst. »Das verdammte Vieh hat Apollo und Hector getötet!«
»Schscht!« Orellana bedachte den Hundeführer mit einem schneidenden Blick. »Nicht so laut! Wir wollen das Biest nicht unnötig provozieren!«
Souza presste die Lippen zusammen und schluckte. Er hatte Tränen in den Augen. Die Ereignisse der letzten Tage waren einfach zu viel für ihn.
Auch die Nerven der anderen waren bis zum Zerreißen gespannt. Das dumpfe, Unheil verkündende Grollen hatte mittlerweile zwar wieder aufgehört, aber im dunstigen Laub raschelte es noch immer. Jeder, der eine Waffe besaß, nahm sie spätestens
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